Man entgeht dem Kreml in Moskau nicht: von den Sperlingsbergen mit der
Lomonossow-Universität aus gesehen, leuchten in der Ferne selbst bei nebligem Wetter die goldenen Kuppeln, auch wenn diese inzwischen Konkurrenz bekommen haben von der Skyline der Wolkenkratzer in Moscow City. Von der in den 1930er Jahren zu einem breiten Fluss aufgestauten Moskwa und den beiden Brücken nach Samoskworetschje aus gesehen, bietet der Kreml ein grandioses Panorama. Sichtachsen laufen auf den Kreml zu wie die Straßen aus den alten russischen Städten, die alle nach Moskau führen. Das kleine Dreieck auf den Karten des Straßen- und Metronetzes zeigt, dass alles um den alten Burgberg kreist. In Sichtweite sieht man den Wohnkomplex des
Hauses an der Moskwa, in dem zahlreiche Angehörige der politischen Elite der 1930er lebten, bevor sie in Stalins „
Säuberungen" verschwanden. Nicht fern am Horizont leuchtet der goldene Helm der wieder errichteten
Christus-Erlöser-Kathedrale, an deren Stelle einmal der Palast der Sowjets über 400 Meter hoch aufragen sollte. Festungsanlagen nach dem Vorbild des Moskauer Kreml finden wir in einer Art imperialer Herrschaftstopographie auch in anderen Städten des Reiches, etwa in Nishni Nowgorod, in Kasan oder Astrachan.
Wer in der Nationalbibliothek, einst Lenin-Bibliothek, arbeitet, oder eine Ausstellung in der Manege besucht, ist in wenigen Minuten an der Kremlmauer. Entlang der Befestigungsanlage reihen sich halbsakrale Orte: der Alexandergarten mit der Grotte, dem
Grabmal für den Unbekannten Soldaten und der Ewigen Flamme. Auf allen Bildern, die wir vom
Roten Platz im Kopf haben, ist im Hintergrund immer auch der Kreml zu sehen: ob es sich um das Lenin-Mausoleum mit den Parteiführern von einst und die Warteschlange der Mausoleum-Besucher davor, um die Militärparaden, die am
Tag des Sieges über den Platz hinwegziehen, um historische Fotos von Mitgliedern der Komintern, die Beerdigungs-Rituale an der Kremlmauer, oder um die Volksfeste und Rockkonzerte handelt, die seit Jahren dort wieder gefeiert werden. Generationen von Besuchern des Kaufhauses GUM, Touristen, die die Basilius-Kathedrale ansteuern oder Geschichts-Interessierte, die sich am
Denkmal für Kusma Minin und Dimitri Posharski über die Befreiung des Kreml von polnisch-litauischer Besetzung im Jahre 1612 informieren lassen, – sie alle bewegen sich in nächster Nähe zum Zentrum der Macht. Ikonisch sind die Fernsehbilder der schwarzen Limousinen, die durch die Tore des Spasski- oder Borowitzki-Turms preschen (inzwischen gibt es einen Heliport auf dem Kreml-Areal), oder jene der Kuppel des Senatsgebäudes – über der nach
Gorbatschows Fernsehansprache zur
Selbstauflösung der UdSSR am 25. Dezember 1991 die rote Fahne mit Hammer und Sichel eingeholt wurde und wo seither die weiß-blau-rote Trikolore weht.