Der neue russische Staat und das Erbe von Imperium und Sowjetunion: Wie staatliche Symbole historische Brüche überdecken.
Die Kreml-Türme
Diesen Sound kennt Jeder und Jede in Russland: Alljährlich läutet am 31. Dezember um Mitternacht die Glocke des Spasskaja Turms des Moskauer Kreml im russischen Staatsfernsehen das neue Jahr ein. Zwölf Glockenschläge, dann fallen sich in allen Wohnzimmern des Landes die Menschen in die Arme und wünschen sich Glück fürs Neue Jahr. Im Hintergrund läuft weiter der Fernseher und spielt die russische Nationalhymne. Die Melodie stammt aus der Stalinzeit, der Text, der „Russland, unser heiliges mächtiges Land“ besingt, aus dem ersten Jahr von Putins Präsidentschaft im Jahr 2000. Die Kamera schweift über die Skyline des Moskauer Zentrums: Über dem Kremlpalast weht die weiß-blau-rote russische Flagge, auf der Kuppel des Senatsgebäudes ist die Standarte des Präsidenten mit Doppelkopfadler und Drachentöter gehisst. Die Symbolik beider Fahnen ruft Erinnerungen an die Zarenzeit wach. Und hoch über allem, auf den Spitzen der Kremltürme, leuchten funkelnd rot die berühmten Sowjetsterne.

An diese scheinbare Harmonie gegensätzlicher politischer Symbole aus unterschiedlichen Epochen haben sich die Menschen in Russland längst gewöhnt. Die eigentlich unvereinbaren politischen Zeichen stehen für die angestrebte „Versöhnung“ des Zarenreiches und der Sowjetunion in Putins Russland. Damit soll die Idee von der Kontinuität russischer Staatlichkeit über die Brüche von 1917 und 1991 ideologisch untermauert werden.
Text: Frithjof Benjamin Schenk, Foto: Max Sher, 23. November 2021
Bauzeit: Fast alle 20 Türme stammen aus den Jahren 1482 bis 1495 und wurden später mehrfach restauriert und umgebaut
Der höchste Turm: Dreifaltigkeitsturm (Troizkaja Baschnja), 80 Meter hoch
Türme mit Sternen: 5 Türme – Troizkaja, Borowitzkaja, Wodowswodnaja, Spasskaja und Nikolskaja Baschnja – tragen seit November 1937 auf der Spitze einen leuchtenden Stern aus rotem Rubinglas
Sterne: Entwurf von Fjodor Fjodorowski, Konstruktion von Alexander Landa, die Sterne wiegen ca. eine Tonne und sind zwischen 3 und 3,70 Meter hoch
Die Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK ist eine staatlich kontrollierte Medienholding. Sie besitzt mehrere landesweit empfangbare Fernseh- und Radiosender sowie Internetmedien, außerdem knapp 100 regionale Medienanstalten in den Föderationssubjekten der Russischen Föderation. 

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Alljährlich läutet am 31. Dezember um Mitternacht die Glocke des Spasskaja Turms des Moskauer Kreml im russischen Staatsfernsehen das neue Jahr ein.
Video: Neujahrsansprache des Präsidenten 2020 / © kremlin.ru unter CC BY 4.0
Auch Besucher des Roten Platzes sehen es auf den ersten Blick: Hier passt einiges nicht zusammen. Relikte aus der sowjetischen Vergangenheit wie das Lenin-Mausoleum oder die roten Sterne auf den Kreml-Türmen konkurrieren mit dem von goldenen Zarenadlern geschmückten Historischen Museum und der 1993 wiederaufgebauten Kasaner Kathedrale um Aufmerksamkeit. Was man als symbolische Kakophonie kritisieren kann, ist jedoch Programm: Im Zentrum der russischen Hauptstadt wird Geschichte eingeebnet und von ihren Brüchen befreit. Alle sollen ein Identifikationsangebot finden – Sowjetnostalgiker ebenso wie orthodoxe Christen, Zarenfans oder Anhänger von Putins „gelenkter Demokratie“. Die Botschaft lautet: Das mächtige Russland gab es, gibt es und wird es immer geben – ganz gleich, welche Fahne über dem Kreml weht!
Am 25. Oktober (7. November) 1917 stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution eingesetzt wurde. Die Machtübernahme in Petrograd erfolgte ohne viel Blutvergießen, jedoch schloss sich ihr ein mehrjähriger Bürgerkrieg mit Millionen Todesopfern an. Zahlreiche westeuropäische Staaten unterstützten den Widerstand gegen die Bolschewiki auch militärisch. So nahm die Geschichte der UdSSR ihren Anfang.

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Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte.

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Nikita Michalkow (geb. 1945) ist ein bekannter Regisseur und Schauspieler- Für seinen Film Die Sonne, die uns täuscht gewann er 1995 den Oscar. Michalkow gilt als lautstarker Unterstützer Präsident Putins.
Das Weiße Haus ist ein administratives Gebäude in Moskau, das zwischen 1965 und 1981 am Moswka-Ufer gebaut wurde. In diesem Haus wurde der Oberste Rat der Russischen Sowjetrepublik und seit 1991 der Russischen Föderation untergebracht. 1993 wurde der Oberste Rat von Boris Jelzin mit Gewalt aufgelöst und als Gesetzgebendes Organ durch die Staatsduma ersetzt. Seit 1994 hat im Weißen Haus das Regierungskabinett Russlands seinen Sitz. 
Die Bolschewiki waren in Fragen der Staatssymbolik weniger tolerant. In den 1930er Jahren beschlossen die Kommunisten unter Stalin, am Roten Platz fast alle politischen Zeichen zu eliminieren, die an die Herrschaft der „Zaren und Popen“ erinnerten. 1935 ließen sie die über zwei Meter großen, vergoldeten Zarenadler entfernen, die seit dem 17. Jahrhundert die Spitzen von vier Kremltürmen schmückten. Man ersetzte sie durch massive, fünfzackige Sterne aus Stahl und Kupfer, die mit Blattgold und Halbedelsteinen verziert waren. Damit sollte der Abschluss des kommunistischen Staatsaufbaus symbolisch unterstrichen und das Zarenreich für immer beerdigt werden.

Zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November 1937 mussten die bereits verwitterten Sterne fünf beleuchteten, rubinroten Sowjetsternen weichen. Sie strahlen seither Tag und Nacht und wurden schnell zu einem Wahrzeichen Moskaus. Nur zweimal wurden sie abgeschaltet: während der Verdunkelung der Stadt im Großen Vaterländischen Krieg und während der Dreharbeiten für einen Spielfilm des als kremlnah geltenden Regisseurs Nikita Michalkow im Jahr 1996. Wie aber lässt sich erklären, dass die roten Sterne bis heute über den Dächern Moskaus leuchten?
Sowjetsterne vs. Zarenadler
Als sich im Juni 1990 die russländische Sowjetrepublik für souverän erklärte, stellte sich umgehend die Frage, wie sich die neue politische Ordnung zu den Staatssymbolen der noch bestehenden UdSSR verhalten und mit welchen neuen Zeichen sie sich schmücken würde. Als im August 1991 reaktionäre Kräfte gegen den sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow putschten, profilierte sich der russische Präsident Boris Jelzin als Führungskraft der Protestbewegung gegen die sowjetischen Hardliner. Ikonisch geworden sind die Bilder, die Jelzin als flammenden Redner mit einer – eigentlich verbotenen – weiß-blau-roten russischen Fahne auf den Barrikaden vor dem Weißen Haus in Moskau zeigen. Der neue starke Mann wollte sich damit deutlich sichtbar vom politischen System der UdSSR und von seinem Erzrivalen und sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow distanzieren.
Neue Symbole für das postsowjetische Russland
1991 profilierte sich Boris Jelzin als Führungskraft der Protestbewegung gegen die sowjetischen Hardliner. Ikonisch geworden sind die Bilder, die Jelzin als flammenden Redner mit einer weiß-blau-roten Fahne auf den Barrikaden zeigen.
Foto: Kundgebung am 25. August 1991 vor dem Weißen Haus in Moskau / © Igor Michalew/RIA Nowosti
Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik.

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Die Zahl der Russen, die den Verlust der Sowjetunion bedauern, liegt derzeit bei 66 Prozent. Das zeigen aktuelle Umfragen des Lewada-Zentrums. Offensichtlich birgt die Sowjetära mit ihren utopischen Zielsetzungen angesichts des seit Jahren stagnierenden russischen Alltags Sehnsuchtspotenzial. Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre ist die Sowjetnostalgie außerdem Teil des patriotischen Projekts Russlands, den verlorenen imperialen Status wiederzugewinnen.

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Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

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Mit der Selbstauflösung der UdSSR Ende 1991 war die rote sowjetische Staatsflagge mit Hammer und Sichel dann endgültig Geschichte. Seit dem 25. Dezember 1991 weht über den Dächern des Moskauer Kreml die russische Trikolore, die der Oberste Sowjet der RSFSR bereits im Sommer zur nationalen Fahne Russlands erklärt hatte. Für Kommunisten und Sowjetnostalgiker, die in den 1990er Jahren noch ein großes Wählerpotential hatten, war der erzwungene Abschied von der roten Fahne nur schwer zu verschmerzen. Das blieb auch dem ehemaligen KGB-Mann Wladimir Putin nicht verborgen.
Jelzins radikaler Bruch mit dem Sowjeterbe war folgenreich und warf viele neue Fragen auf. Schließlich benötigte der neue demokratische russische Staat neben einer Fahne auch noch ein Staatswappen für die Markierung von Uniformen, staatlichen Gebäuden, Orden, Pässen, Geldscheinen und anderen offiziellen Dokumenten. Das alte sowjetische Wappen mit Weltkugel, Hammer und Sichel, Rotem Stern und der Losung in 15 Sprachen „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ hatte zweifelsohne ausgedient.
Die Renaissance des Reichsadlers
Zit. nach de Keghel, Isabelle (2003): Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel: Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen: Arbeitspapiere und Materialien, S. 44
Wappentier und Drachentöter schmückten bereits im 15. Jahrhundert das Siegel des Moskauer Großfürsten Iwan III. Seit 1480 thronte der Doppelkopfadler auch auf der Spitze des Spasskaja Turms im Moskauer Kreml.
Michail Glinka (1804–1857) gilt als Begründer der Tradition der klassischen Musik in Russland. Er bereiste viele europäische Städte und Kulturzentren seiner Zeit – darunter Mailand, Paris und Berlin und war mit bedeutenden Komponisten wie Mendelssohn und Chopin bekannt. Seine Oper Ein Leben für den Zaren (1836) war die erste auf Russisch gesungene klassische Oper.
Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

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 (zit. nach: de Keghel 2003, 44, FN 213).
Die KPRF ist die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Sie ist die direkte Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und orientiert sich politisch an einem sozialistischen Kurs, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht jedoch auch von ihrer Vorgängerin. Bei den Parlamentswahlen 2016 erreichte die KPRF 13,3 Prozent der Wählerstimmen und blieb damit die größte Oppositionspartei im Parlament.

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Am 31. Dezember 1999 ist Jelzin zurückgetreten, und damit begann die Ära Putin. Die russischen Medien haben diese Zäsur überwiegend positiv aufgenommen, nur wenige Stimmen blickten skeptisch auf den neuen Präsidenten und die Art der Machtübergabe.

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Ein geschmückter Tannenbaum mit wechselvoller Geschichte, ein überquellender Festtagstisch und der Fernseher als ständiger Begleiter: Das russische Neujahrsfest versammelt besinnliche und kuriose Traditionen aus verschiedenen Epochen. Nachdem Peter I. versucht hatte, erste Traditionen zum Jahreswechsel zu begründen, hielten im 19. Jahrhundert die europäischen Weihnachtsbräuche in Russland Einzug. Von den Bolschewiki als bürgerlich geschmäht und gleich darauf wieder zum Leben erweckt, verbanden sie sich mit dem konfessionsübergreifenden Neujahrsabend zu einem vergnüglichen, unverwechselbaren Fest.

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Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

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Aber welche Hymne sollte nun am Neujahrstag im russischen Fernsehen gespielt werden? Welches Lied sollten russische Sportler und Sportlerinnen bei internationalen Wettkämpfen singen? Der Entscheid über die neue Nationalhymne der Russischen Föderation erwies sich als besonders knifflig. Da kaum ein Staatssymbol so sinnlich und so emotional behaftet ist wie die Nationalhymne, wurde die Diskussion über diese Fragen in den 1990er und frühen 2000er Jahren in Russland besonders heftig geführt.

Für Boris Jelzin und seinen dezidiert antikommunistischen Kurs war die alte Sowjethymne, deren Melodie noch aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und deren letzter Text aus der Breshnew-Ära stammte, wieder indiskutabel. Anders als bei Fahne und Wappen konnte man sich allerdings auch nicht einfach aus der Symbolkiste des späten Zarenreiches bedienen. Die Hymne Boshe, Zarja chrani (dt. Gott schütze den Zaren), die im Russländischen Reich seit 1833 als offizielle Nationalhymne diente, traf 1990/91 kaum den Geist der Zeit. Auch die Arbeitermarseillaise oder die Internationale, die nach der Februar- bzw. der Oktoberrevolution 1917 die Massen mobilisierten, erschienen ungeeignet. Als unverfängliche Alternative bot sich das Patriotische Lied des russischen Komponisten Michail Glinka aus den 1830er Jahren an. Diese Melodie ertönte zwischen 1990 und 2000 bei offiziellen Anlässen, allerdings ohne Text, da man sich auf einen Inhalt nicht einigen konnte.

Glinkas Patriotisches Lied blieb in Russland in den 1990er Jahren umstritten. Noch im März 1999 sprachen sich 307 von 450 Duma-Abgeordneten für die Rückkehr zur alten Sowjethymne aus. „Wir wurden mit dieser Hymne geboren und werden damit ins Grab gehen“, erklärte etwa ein Abgeordneter der Kommunistischen Partei. Im folgenden Jahr beschwerten sich sogar die SportlerInnen der russischen Olympia-Mannschaft über die schwer zu singende Melodie und den fehlenden Text der Nationalhymne.
Wie klingt die Nation?
Anders als sein Nachfolger Putin betrachtete Präsident Jelzin die 70-jährige Geschichte der Sowjetunion als historische Sackgasse. Da schien es naheliegend, auch bei der Wappenfrage an Traditionen der vorrevolutionären Zeit anzuknüpfen. Nach dreijährigen Beratungen schlug eine Expertenkommission einen goldenen, von drei Kronen geschmückten Doppelkopfadler als Staatswappen der Russischen Föderation vor. Kommunisten lehnten die Renaissance zaristischer Symbole entschieden ab und bezeichneten den Adler als „bedrohliches doppelköpfiges Huhn“. Gegen ihren Widerstand erklärte Jelzin Ende 1993 jedoch den Entwurf seiner Experten einfach per Präsidialerlass zum neuen Staatswappen.
Anders als Putin betrachtete Präsident Jelzin die 70-jährige Geschichte der Sowjetunion als historische Sackgasse. Da schien es naheliegend, an Traditionen der vorrevolutionären Zeit anzuknüpfen.
Offen blieb allerdings die Frage, welche Bedeutungen das wiederbelebte Herrschaftszeichen aus der Zarenzeit im postsowjetischen Russland eigentlich transportieren soll. Zwar lässt sich mit dem Doppelkopfadler eine jahrhundertealte Tradition russischer Staatlichkeit beschwören. Für welche Werte und Institutionen stehen jedoch Kronen, Zepter und Reichsapfel in einem Land, das keinen Monarchen kennt und föderal strukturiert ist? Zu diesen Fragen kursieren heute in Russland die unterschiedlichsten Antworten. Manch einer interpretiert den in zwei Richtungen blickenden Adler als Symbol der vereinten europäischen und asiatischen Landeshälften. Allerdings konnten im August 2020 in einer repräsentativen Umfrage 65 Prozent der Befragten nicht sagen, für was der Adler eigentlich stehe. Dessen ungeachtet waren 68 Prozent der Meinung, dass das Staatswappen gut zu Russland passe.
Als Wladimir Putin Anfang 2000 die Amtsgeschäfte von Präsident Jelzin übernahm, machte er die Frage der russischen Staatssymbole zur Chefsache. Anders als sein Vorgänger betonte Putin bei seiner Symbolpolitik nicht historische Brüche, sondern die Kontinuität russischer Staatlichkeit. Diesem Ziel wurde auch die Frage der Staatssymbole untergeordnet. Bereits am Ende seines ersten Amtsjahres gelang es Putin, im Parlament die Mehrheit für Gesetzesvorlagen zu mobilisieren, mit denen der lange Streit über Form und Inhalt der Staatssymbole beendet werden sollte. Möglich wurde dies durch eine offizielle Kehrtwende in der Hymnenfrage. Putin war sich der großen Popularität der sowjetischen Hymne von Alexander Alexandrow aus dem Jahr 1944 bewusst. Millionen Russinnen und Russen waren mit dieser Melodie aufgewachsen und verbanden mit ihr positive Erinnerungen an das Neujahrsfest, den Tag des Sieges und andere Feiertage. Den Menschen dieses Lied „zurückzugeben“ kostete wenig und versprach steil ansteigende Beliebtheitswerte.
Putins Aussöhnung mit dem symbolischen Sowjeterbe
Anders als sein Vorgänger betonte Putin bei seiner Symbolpolitik nicht historische Brüche, sondern die Kontinuität russischer Staatlichkeit. Diesem Ziel wurde auch die Frage der Staatssymbole untergeordnet.
Anfang Dezember 2000 schlug Putin daher dem Parlament vor, den Entscheid Boris Jelzins von 1993 über die Rückkehr zu Fahne und Wappen aus der Zarenzeit zu bestätigen, bei der Staatshymne jedoch zur Melodie der Sowjethymne zurückzukehren. Auch die rote Fahne aus der Sowjetzeit sollte als Flagge der russischen Streitkräfte wieder zu neuen Ehren kommen. Mit diesem symbolpolitischen Kompromiss wollte er Patrioten, Nationalisten, Kommunisten und imperiale Nostalgiker zum Einlenken in der umkämpften Frage der Staatssymbole bewegen.
Mit einem symbolpolitischen Kompromiss wollte Putin Patrioten, Nationalisten, Kommunisten und imperiale Nostalgiker zum Einlenken in der umkämpften Frage der Staatssymbole bewegen.
Foto: Kremlstern und Standarte des Präsidenten Russlands / © Anton Denissow/Sputnik
Yabloko.ru: Vystuplenie Grigorija Javlinskogo, kotoroe pobojalas' uslyšat' Gosduma. Dt. Übersetzung zitiert nach: de Keghel, Isabelle (2003): Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel: Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität, in: Forschungsstelle Osteuropa Bremen: Arbeitspapiere und Materialien, S. 93
[zit. Nach: de Keghel 2003, 88f.]
Der Coup gelang. Im Dezember 2000 beschloss die Duma mit überwältigender Mehrheit das Gesetzespaket über Staatsflagge, Staatswappen, Melodie der Nationalhymne und Flagge der Streitkräfte. Selbst Kommunisten stimmten für die Trikolore aus der Zarenzeit und den Doppelkopfadler. Lediglich die Abgeordneten der liberalen Parteien Jabloko und Union der Rechten Kräfte versagten ihre Zustimmung. Die Rückkehr zur Sowjethymne war für sie ein Skandal. Die „Stalin-Hymne“ symbolisierte in ihren Augen eine „bankrotte Weltanschauung“, in deren Namen ein „Genozid am russischen Volk“ begangen worden sei und die zum „Zusammenbruch eines auf dieser Ideologie basierenden Staates geführt“ habe.

Während die einen die Versöhnung von zaristischen und sowjetischen Symbolen als Projekt der gesellschaftlichen „Konsolidierung“ begrüßten, hatten andere für den gefundenen Kompromiss nur Spott übrig. Besonders scharf meldete sich Sergej Tschernjachowski Anfang Dezember 2000 in der Nesawissimaja Gaseta zu Wort: Russlands Sammelsurium an Staatssymbolen erinnerte ihn an einen Text von Franz Kafka. Russland, so die Prognose des Kritikers, werde unter der „Flagge der postmodernen Absurdität“ in das 21. Jahrhundert starten.

Blieb die Frage nach dem Text der Nationalhymne: Die löste Putin wie sein Vorgänger Boris Jelzin per Erlass und entschied eigenmächtig über den Inhalt der Hymne. Am 31. Dezember 2000 kam sie nach seiner Neujahrsansprache erstmals zum „Einsatz“.

Eine Ironie der Geschichte um die alte sowjetische beziehungsweise neue russische Nationalhymne ist, dass der Text aller drei existierenden Versionen aus den Jahren 1944, 1977 und 2000 aus der Feder des gleichen Autors stammt: Sergej Michalkow (1913–2009), Vater des Regisseurs Nikita Michalkow, für dessen Film Der Barbier von Sibirien 1996 die Lampen der roten Sterne über den Kremltürmen ausgeschaltet wurden.
Frithjof Benjamin Schenk
Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Er forscht dort unter anderem zu Erinnerung und Konzepten kollektiver Identität in Osteuropa.