Aber welche Hymne sollte nun am Neujahrstag im russischen Fernsehen gespielt werden? Welches Lied sollten russische Sportler und Sportlerinnen bei internationalen Wettkämpfen singen? Der Entscheid über die neue Nationalhymne der Russischen Föderation erwies sich als besonders knifflig. Da kaum ein Staatssymbol so sinnlich und so emotional behaftet ist wie die Nationalhymne, wurde die Diskussion über diese Fragen in den 1990er und frühen 2000er Jahren in Russland besonders
heftig geführt.
Für Boris Jelzin und seinen dezidiert antikommunistischen Kurs war die alte
Sowjethymne, deren Melodie noch aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges und deren letzter Text aus der Breshnew-Ära stammte, wieder indiskutabel. Anders als bei Fahne und Wappen konnte man sich allerdings auch nicht einfach aus der Symbolkiste des späten Zarenreiches bedienen. Die Hymne
Boshe, Zarja chrani (dt. Gott schütze den Zaren), die im Russländischen Reich seit 1833 als offizielle Nationalhymne diente, traf 1990/91 kaum den Geist der Zeit. Auch die
Arbeitermarseillaise oder die
Internationale, die nach der Februar- bzw. der Oktoberrevolution 1917 die Massen mobilisierten, erschienen ungeeignet. Als unverfängliche Alternative bot sich das
Patriotische Lied des russischen Komponisten
Michail Glinka aus den 1830er Jahren an. Diese Melodie ertönte zwischen 1990 und 2000 bei offiziellen Anlässen, allerdings ohne Text, da man sich auf einen Inhalt nicht einigen
konnte.
Glinkas
Patriotisches Lied blieb in Russland in den 1990er Jahren umstritten. Noch im März 1999 sprachen sich 307 von 450
Duma-Abgeordneten für die Rückkehr zur alten Sowjethymne aus. „Wir wurden mit dieser Hymne geboren und werden damit ins Grab
gehen“, erklärte etwa ein Abgeordneter der
Kommunistischen Partei. Im folgenden Jahr beschwerten sich sogar die SportlerInnen der russischen Olympia-Mannschaft über die schwer zu singende Melodie und den fehlenden Text der Nationalhymne.