Vom Weißen Meer zur Schaltstelle des KGB: Wie die Zivilgesellschaft gegen das Vergessen der Opfer des Großen Terrors kämpft.
Der Solowezki-Stein
Memorial ist eine international aktive russische Menschenrechtsorganisation. 1987/88 unter anderem von dem Wissenschaftler und Dissidenten Andrej Sacharow gegründet, widmet sich Memorial der historischen Aufarbeitung der politischen Repressionen und der sozialen Fürsorge für Überlebende des Arbeitslagersystems Gulag. Auch aktuell setzt sich Memorial für die Wahrung der Menschenrechte ein. Die Organisation ist regelmäßig Ziel von Einschüchterungs- und Behinderungsversuchen seitens der russischen Behörden.
Dieser Tag wurde erstmals 1974 von politischen Gefangenen der Lager in den Regionen Perm und Mordwinien begangen. 
Graue Wolken hängen am 29. Oktober 2019 über dem Moskauer Zentrum, am Nachmittag wird es zu regnen beginnen, die Temperaturen liegen im niedrigen einstelligen Bereich. Dennoch reihen sich an diesem Tag auf dem Lubjanka Platz, nur knapp ein Kilometer vom Roten Platz entfernt, Hunderte Menschen geduldig wartend hinter zwei Mikrofonen auf. Eine junge Frau mit fliederfarbener Mütze tritt vor und liest von einem Zettel ab: „Akim Grigorewitsch Salnikow, 53, Hauptbuchhalter der Staatsbank. Erschossen am 8. Dezember 1937. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.“ Zwölf Stunden lang, von 10 bis 22 Uhr, werden Moskauerinnen und Moskauer die Namen von Tausenden Menschen vorlesen, die während der stalinistischen Repressionen ums Leben kamen. Viele ergänzen die Namen ihrer eigenen Verwandten, die unter der Herrschaft Stalins repressiert und ermordet wurden. Immer wieder fällt der Satz „Swobodu wsem politsaklutschjonnym“ (dt. „Freiheit für alle politischen Gefangenen“). Am Ende der Aktion ist der Solowezki-Stein über und über mit Blumen und Grablichtern bedeckt.
Alljährlich findet die von Memorial organisierte Aktion „Rückkehr der Namen“ statt – und immer am Vortag des 30. Oktober, dem Tag der Opfer der politischen Repressionen. Dafür versammeln sich die Menschen am Solowezki-Stein auf dem Lubjanka Platz und verlesen den Namen, das Alter, den Beruf und das Datum der Ermordung von einem ihnen in den meisten Fällen unbekannten Menschen. Etwa 3000 Namen werden auf diese Weise genannt. Es ist nur ein Bruchteil der „Millionen Opfer des totalitären Regimes“, denen der Solowezki-Stein ein Denkmal setzt, aber es holt die Repressierten für einen kurzen Moment in die Gegenwart, zeigt, dass ihre Nachkommen sie nicht vergessen haben.
Text: Nina Frieß, Foto: Max Sher, 5. Oktober 2021
Höhe: 1,75m
Künstler: Sergej Smirnow, Viktor Korsi
Einweihung: 30. Oktober 1990 durch Memorial
Alljährlich findet die von Memorial organisierte Aktion „Rückkehr der Namen“ statt – und immer am Vortag des 30. Oktober, dem Tag der Opfer der politischen Repressionen
Video © Youtube/Memorial
Der Lubjanskaja Platz (Lubjanka) ist ein Platz im Zentrum Moskaus, an dem die Zentrale des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB liegt. Im selben Gebäude hatten zuvor der sowjetische Geheimdienst KGB sowie seine Vorgängerorganisationen ihr Hauptquartier. Der Begriff Lubjanka wird in der Umgangssprache sowohl für den Platz als auch für die Organe der Staatssicherheit verwendet.

Mehr dazu in unserer Gnose
Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

Mehr dazu in unserer Gnose
Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

Mehr dazu in unserer Gnose
Der Ort, an dem die Opfer der stalinistischen Repressionen ihren Namen zurückerhalten, ist dabei von besonderer Bedeutung: Der Solowezki-Stein liegt in unmittelbarer Nachbarschaft des Gebäudes, das seit 1919 zunächst den sowjetischen, seit 1991 den russischen Inlandsgeheimdienst beherbergt. „Die Lubjanka“, wie das Gebäude im Volksmund auch genannt wird, steht dabei bis heute synonym für den sowjetischen Geheimdienst und dessen Staatsterror.

Der knapp einen Meter hohe Findling, der auf einem Fundament aus neun Marmorplatten befestigt ist, stammt von den Solowezki-Inseln im Weißen Meer. Dort war 1924 das erste sowjetische Arbeitslager errichtet worden, das zum Prototyp für den über das gesamte Land verteilten „Archipel Gulag“ werden sollte. Die Idee, einen schlichten, durch seinen Herkunftsort aber symbolisch aufgeladenen Gedenkstein zu installieren, stammte ursprünglich aus Archangelsk, fand dann aber russlandweit Nachahmer.
Die Lubjanka als Synonym des Staatsterrors
Der knapp einen Meter hohe Findling, der auf einem Fundament aus neun Marmorplatten befestigt ist, stammt von den Solowezki-Inseln im Weißen Meer, wo 1924 das erste sowjetische Arbeitslager errichtet worden war.
Foto: Aktion „Rückkehr der Namen“ am 29.10.2012 / © Vitaliy Belousov/Sputnik
Felix Dsershinski (1877–1926) war ein russischer Revolutionär und sowjetischer Politiker. 1917 gründete er die Tscheka – die Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage. Bis zu seinem Tod leitete er die Staatssicherheit bzw. das Innenministerium. Wie kaum ein anderer steht der Name Dsershinski für das sowjetische Machtinstrument des Geheimdienstes, nicht umsonst nannte man ihn den „eisernen Felix“. Der Sturz seines Denkmals vor dem KGB-Gebäude an der Moskauer Lubjanka im Jahr 1991 gilt als eines der wichtigsten politischen Symbole der frühen 1990er Jahre.

Mehr dazu in unserer Gnose
 Ein weltweit beachtetes Museum russischer Kunst in Moskau. Den Grundstein legte die private Sammlung des Moskauer Kaufmanns Pawel Tretjakow. Im Jahr 1892 vermachte Tretjakow seine etwa 2000 Kunstwerke der Stadt Moskau, die dafür eigens ein Gebäude errichtete. Im Jahr 1985 wurde das Museum mit der Sammlung für moderne Kunst zusammengelegt. Heute beherbergt es in mehreren Gebäuden im Stadtzentrum rund 140.000 Kunstwerke.

Mehr dazu in unserer Gnose
 Ein weltweit beachtetes Museum russischer Kunst in Moskau. Den Grundstein legte die private Sammlung des Moskauer Kaufmanns Pawel Tretjakow. Im Jahr 1892 vermachte Tretjakow seine etwa 2000 Kunstwerke der Stadt Moskau, die dafür eigens ein Gebäude errichtete. Im Jahr 1985 wurde das Museum mit der Sammlung für moderne Kunst zusammengelegt. Heute beherbergt es in mehreren Gebäuden im Stadtzentrum rund 140.000 Kunstwerke.

Mehr dazu in unserer Gnose
Am 10. September 1990 erteilte der Moskauer Sowjet die Erlaubnis, ein Denkmal für die Opfer politischer Repressionen vor dem polytechnischen Museum am Felix-Dsershinski-Platz zu errichten, wie der Lubjanka Platz von 1926 bis 1990 hieß. In seiner Mitte befand sich zu diesem Zeitpunkt noch ein weiteres Denkmal, das dem Namensgeber des Platzes, dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei gewidmet war. Die Nachbarschaft des Solowezki-Steins und des Eisernen Felix‘ währte indes nicht lang: im August 1991 versuchten Anhängerinnen und Anhänger der russischen Demokratiebewegung zunächst das Geheimdienstgebäude zu stürmen und, als das nicht gelang, das Dsershinski-Denkmal zu stürzen. Die Statue erwies sich als standfest, außerdem befürchtete man Verletzte und Beschädigungen der unter dem Platz liegenden Metro-Station. Schließlich wurde das Denkmal mit Hilfe zweier Kräne demontiert und in den Skulpturenpark an der Neuen Tretjakow-Galerie gebracht. Vielen galt dieser symbolische Denkmalsturz als Sinnbild für den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Solowezki-Stein vs. Eiserner Felix
Als der Solowezki-Stein am 30. Oktober 1990 unter großer Anteilnahme der Moskauer Bevölkerung eingeweiht wurde, hätten wohl die wenigsten der Anwesenden gedacht, dass hier noch einmal Forderungen nach der Freilassung von politischen Gefangenen zu hören sein würden. Ein Jahr zuvor, am 30. Oktober 1989, hatten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gedenktags eine Menschenkette um das Gebäude des sowjetischen Geheimdienstes gebildet. Es gab Überlegungen, in der Lubjanka ein Museum einzurichten, in dem die Geschichte der Massenrepressionen erzählt werden sollte. Die Errichtung des Gedenksteins in Sichtweite des Geheimdienstsitzes sollte nur ein erster Schritt in Richtung einer umfassenden Aufarbeitung der sowjetischen Repressionsgeschichte sein.
Im August 1991 wurde das Dsershinski-Denkmal demontiert. Vielen galt dieser symbolische Denkmalsturz als Sinnbild für den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Foto: Demontage des Dsershinski-Denkmals am 22. August 1991 / © Sergej Podlesnow/Kommersant
Als Fürst von Nowgorod errang Alexander Jaroslawitsch „Newski“ im 13. Jahrhundert wichtige militärische Siege gegen Schweden und den Deutschen Orden. Diese Erfolge begründeten die Verehrung, die ihm bis heute in Russland zuteil wird. Von der Orthodoxen Kirche heiliggesprochen, tilgten die Bolschewiki zunächst die Erinnerung an ihn aus der Geschichte, bis er als nationale Identifikationsfigur unter Stalin in den 1930er Jahren wieder rehabilitiert wurde.

Mehr dazu in unserer Gnose
Sachar Prilepin (geb. 1975) ist ein russischer Schriftsteller. Neben seinen Büchern verfasst er auch journalistische Artikel, in denen er sich häufig gegen liberale Tendenzen in der russischen Gesellschaft wendet. Prilepin war Mitglied der inzwischen verbotenen Nationalbolschewistischen Partei des umstrittenen Oppositionellen Eduard Limonow. Medienberichten zufolge befehligte er ab März 2017 als Major ein Bataillon im Donbass. Derzeit ist er stellvertretender Leiter des Gorki Künstlertheaters in Moskau.

Mehr dazu in unserer Gnose
Als Großen Terror bezeichnet man die staatlichen Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung zwischen 1936 und 1938. Der Begriff wurde durch die gleichnamige Monographie des britischen Historikers Robert Conquest geprägt. Während des Großen Terrors wurden Schätzungen zufolge rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, etwa 680.000 von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Die Repressionen erfolgten in mehreren Wellen. Waren zunächst vor allem hohe Parteikader betroffen, gerieten im Laufe der Zeit immer neue Gesellschaftsgruppen ins Visier der Sicherheitsorgane. Eine juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen fand bis heute nicht statt.

Mehr dazu in unserer Gnose
S. dazu: Levada.ru: Dinamika otnošenija k Stalinu
Die südrussische Stadt Wolgograd ist als Stalingrad durch das Inferno im Zweiten Weltkrieg in die Weltgeschichte eingegangen, hatte jedoch im Zarenreich einen anderen Namen tatarischen Ursprungs. Heute wird versucht, wieder stärker an die sowjetische Vergangenheit der Stadt anzuknüpfen, vor allem dadurch, dass die Stadt zu bestimmten Feiertagen wieder Stalingrad heißen darf.

Mehr dazu in unserer Gnose
Tatsächlich zeigt der Streit um die mögliche Wiedererrichtung des Dsershinski-Denkmals, welche Konflikte die russische Erinnerungskultur durchziehen. Während die einen den Verlust der einstigen Stärke des Staates beklagen, die sie in Figuren wie Dsershinski symbolisiert sehen, äußern sich die anderen deprimiert darüber, dass „diese Fragen überhaupt diskutiert werden.“
Konfliktbeladene Erinnerungskultur
Die Mitte des Platzes in unmittelbarer Nachbarschaft des Solowezki-Steins ist seitdem verwaist. Allerdings gibt es in regelmäßigen Abständen Diskussionen darüber, diesen Platz im Herzen Moskaus wieder mit einem Denkmal zu besetzen. Zuletzt initiierte die Moskauer Stadtregierung im Februar 2021 eine Online-Abstimmung darüber, ob dort ein neues Denkmal für Alexander Newski errichtet oder das alte Dsershinski-Denkmal reinstalliert werden solle. Befürworter des Eisernen Felix meldeten sich umgehend in den sozialen Medien zu Wort. So postete der nationalistische Autor und Politiker Sachar Prilepin auf Facebook, die Rückkehr Dsershinskis sei ein „symbolischer Akt von kolossaler Bedeutung“, da damit gezeigt werde, dass „wir bereit sind, den Zerfall und das Chaos“ von 1991 zu überwinden. Die Nachbarschaft Dsershinskis mit dem Solowezki-Stein stellt für ihn offenbar keinen Widerspruch dar: „… genau diese Nähe ... symbolisiert, dass wir aus allen [Geschichts]stunden eine Lehre gezogen haben.“
Putin und andere huldigen Stalin immer wieder als „effektiven Manager“, unter dessen Führung die Sowjetunion Nazi-Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg besiegte und das Land erfolgreich wiederaufgebaut wurde.
Das, was Memorial und andere zivilgesellschaftliche Organisationen seit dem Ende der Sowjetunion in Sachen Aufarbeitung und Aufklärung vorangetrieben haben, steht im heutigen Russland tagtäglich zur Disposition. Stalin, dem Initiator des Großen Terrors und der Massenrepressionen, wird von einer Mehrheit der russischen Bevölkerung heute wieder eine positive oder eher positive Rolle in der Geschichte des Landes zugeschrieben. Immer wieder gibt es Diskussionen darüber, Wolgograd in Stalingrad zurück zu benennen. Das an der Kremlmauer gelegene Grabmal Stalins wird von Besucherinnen und Besuchern weiterhin mit Blumen geschmückt, und in ganz Russland werden dem Diktator wieder Büsten und Denkmäler gesetzt.
Vor dem Hintergrund der Bolotnaja-Proteste hat die russische Staastduma 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es sanktioniert „politisch aktive“ zivilgesellschaftliche Organisationen, die finanziell aus dem Ausland unterstützt werden. Seit November 2017 können zudem auch Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden. Die Gesetze sind unklar formuliert, sodass die russische Justiz nach eigenem Ermessen entscheidet, welche Organisationen mit dem aus der Stalinzeit stammenden „Agenten“-Label versehen werden. Betroffene Organisationen müssen strenge Vorschriften einhalten, die ihre Arbeit erheblich erschweren.

Mehr dazu in unserer Gnose
Juri Dmitrijew hatte über Jahrzehnte die Zeit des Großen Terrors rekonstruiert, den Toten anonymer Massengräber Namen und ein würdiges Begräbnis gegeben. Der Journalist Schura Burtin ist Dmitrijew in die dunkle Vergangenheit Russlands gefolgt und hat sich ein Bild ob der heftigen Anschuldigungen gemacht.

Mehr dazu in unserem Artikel
Die Moskauer Helsinki-Gruppe ist die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands. Sie wurde bereits zu Zeiten der Sowjetunion, im Jahr 1976, gegründet. Um der Registrierung als ausländischer Agent zu entgehen, verzichtet die NGO auf finanzielle Mittel aus dem Ausland.
Die russische Staatsführung verurteilt die unter der Herrschaft Stalins begangenen Verbrechen zwar. So sagte Wladimir Putin 2017 bei der Einweihung der Mauer der Trauer, dem nunmehr offiziellen, aber nicht unumstrittenen Denkmal für die Opfer politischer Repressionen: „Diese schreckliche Vergangenheit ist aus dem nationalen Gedächtnis nicht auszulöschen und darüber hinaus durch nichts zu rechtfertigen … .“ Über die Verantwortlichen des Terrors verliert Putin in seiner Rede indes kein Wort. „Man kann ihn nach Herzenslust dämonisieren“, sagt der Staatschef in einem Interview, Stalin sei aber „Produkt seiner Epoche“. Dafür huldigen Putin und andere Stalin immer wieder als „effektiven Manager“, unter dessen Führung die Sowjetunion Nazi-Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg besiegte und das Land erfolgreich wiederaufgebaut wurde. Darüber hinaus gibt es von staatlicher Seite keine Bemühungen, ein Geschichtsbild zu etablieren, in dem es Platz für die wenig heldenhaften Seiten der eigenen Historie geben könnte. Stattdessen werden Organisationen wie Memorial zu „ausländischen Agenten“ erklärt und ihre aktiven Mitglieder, wie der Historiker Juri Dmitrijew, in konstruierten Gerichtsverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt.
Die russische Staatsführung verurteilt die unter der Herrschaft Stalins begangenen Verbrechen. Dafür huldigen Putin und andere Stalin als „effektiven Manager“.
Foto: Einweihung der Mauer der Trauer am 30. Oktober 2017 / © kremlin.ru unter CC BY 4.0
Die Abstimmung über das Denkmal auf dem Lubjanka Platz wurde 2021 nach nur zwei Tagen abgebrochen, da, wie der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin in seinem Blog schrieb, sie „zunehmend zu einer Konfrontation von Menschen mit unterschiedlichen Ansichten“ wurde. Bis man eine konsensfähigere Idee entwickelt habe, solle auf dem Lubjanka Platz erst einmal alles so bleiben, wie es ist.

Auch der Solowezki-Stein sollte schon demontiert werden, wenn auch nach offiziellen Angaben nur temporär wegen Bauarbeiten. Dagegen liefen 2008 russische Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler Sturm, die einen Vorwand der Behörden vermuteten, um das ungeliebte Denkmal dauerhaft zu entfernen. Damit werde man sich nicht abfinden, kündigte Ljudmila Alexejewa, Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, an, man werde einen „weltweiten Skandal“ anzetteln, sollten die Behörden an ihrer Entscheidung festhalten – was sie schließlich nicht taten. Bauarbeiten sind seitdem allerdings immer wieder Streitthema zwischen den russischen Menschenrechtsorganisationen wie Memorial und den Moskauer Behörden. So wurde 2018 eine bereits erteilte Genehmigung für die Durchführung der Aktion „Rückkehr der Namen“ wegen vermeintlicher Bauarbeiten kurzfristig zurückgezogen – stattdessen sollte Memorial an die jenseits des Moskauer Stadtzentrums gelegene Mauer der Trauer ausweichen. Erst nach heftigen Protesten konnte die Aktion an ihrem angestammten Ort stattfinden. Memorial werde sich von dort nicht vertreiben lassen, stellte Olga Rakutko, Vorsitzende von Memorial Moskau, 2017 klar: „Wir versammeln uns seit fast 30 Jahren an diesem Ort. Und ich denke, dass wir niemals von diesem Ort weggehen werden. Den 30. Oktober werden wir hier zweifellos jedes Jahr begehen.“

Am 29. Oktober 2020 war es wegen der weltweiten Corona-Pandemie nicht möglich, sich am Solowezki-Stein zu versammeln. Memorial verlegte die Aktion ins Internet. Zu Beginn des Videos ist Jelena Shemkowa, Direktorin von Memorial international, zu sehen. Natürlich stand sie vor dem Solowezki-Stein.
„Wir werden niemals von diesem Ort weggehen“
Bonwetsch, Bernd (2014): Gulag: Willkür und Massenverbrechen in der Sowjetunion 1917–1953: Einführung und Dokumente, in: Landau, Julia/Scherbakowa, Irina (Hrsg.): Gulag Texte und Dokumente 1929–1956, Bonn, S. 30–37, hier S. 36. Vor der Öffnung der sowjetischen Archive kursierten wesentlich höhere Zahlen.
Werth, Nicolas (2007): Der Gulag im Prisma der Archive: Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse, in: Osteuropa 6/2007, S. 9–30, hier 16–19
Werth, Nicolas (2007): Der Gulag im Prisma der Archive: Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse, in: Osteuropa 6/2007, S. 9–30, hier 30
siehe dazu ausführlicher Applebaum, Anne (2005): Der Gulag, München, S. 243–244
Dazu Fieseler, Beate (2014): Ende des Gulag-Systems? Amnestien und Rehabilitierungen nach 1953, in: Landau, Julia/Scherbakowa, Irina (Hrsg.): Gulag Texte und Dokumente 1929–1956, Bonn, S. 170–179
Applebaum, Anne (2011): Stalin’s Positive Memory, in: Breier, Zsuzsa/Muschg, Adolf (Hrsg.): Freiheit, ach Freiheit … Vereintes Europa – Geteiltes Gedächtnis, Göttingen, S. 95–100, hier S. 95
Erinnerung an den Stalinismus
Der Diskurs um die sowjetische Vergangenheit gestaltet(e) sich in Russland höchst widersprüchlich. Eine anfängliche Phase großer Offenheit und Diskussionsbereitschaft während der Perestroika wurde durch eine Übergangsphase der weitgehenden Stagnation in den 1990er Jahren abgelöst, in der die meisten Menschen, wie es die Historikerin Anne Applebaum ausdrückt, „einfach zu beschäftigt waren, um sich um die Vergangenheit zu sorgen“. Vor allem wirtschaftliche Sorgen eines Großteils der russischen Bevölkerung ließen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den Hintergrund treten.

Mit dem Amtsantritt Putins 1999/2000 wurde in der russischen Erinnerungskultur eine neue Phase eingeläutet. Die russische Führung bemüht sich seitdem, positive Aspekte der Sowjetzeit – etwa die Alphabetisierung der Bevölkerung, die Industrialisierung des Landes und allem voran den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg – in ein heroisches Gesamtnarrativ russischer Geschichte einzubetten. Negative Aspekte der eigenen Geschichte werden dabei systematisch ausgeblendet oder relativiert.
Wenn es doch zu einer Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte kommt, steht meist die Erinnerung an die Opfer im Mittelpunkt. Bedenkt man, dass jahrzehntelang aus Angst vor Verfolgung und Stigmatisierung oft nicht einmal im engsten Familienkreis über erlittenes Unrecht gesprochen wurde, ist es ein wichtiges Anliegen, den Opfern – wie bei der Aktion von Memorial – ihre Namen zurückzugeben. Dabei gerät allerdings aus dem Blick, dass Millionen von Menschen zwar im Namen einer Ideologie repressiert wurden, die eigentlichen Repressionen aber von konkreten Menschen erdacht, angeordnet und ausgeführt wurden. Bis heute wird in Russland kaum über Täter – und Mitläufer – debattiert. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich in der Sowjetunion diese Rollen häufig weniger eindeutig zuschreiben ließen als in anderen Unrechtsregimen. Häufig wurden Täter nach einer gewissen Zeit selbst zu Opfern des Regimes, dem sie dienten, und Opfer wurden zu Tätern (gemacht), etwa wenn sie zu Denunziationen gezwungen wurden. Die Verantwortung für die Repressionen unter Stalin wird – wenn diese Diskussion denn erfolgt – bis heute einer kleinen Clique rund um den allmächtigen sowjetischen Führer zugeschrieben.
Nina Frieß
Nina Frieß ist promovierte Slawistin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Zu ihren Forschungsinteressen zählen erinnerungskulturelle Fragestellungen, das Verhältnis zwischen Literatur und Politik und die russische Gegenwartskultur.

Foto © Annette Riedl