Ein Heiliger des Mittelalters als Rechtfertigung der Krim-Angliederung. Wie Moskau die Zusammengehörigkeit von Russen, Ukrainern und Belarussen konstruiert.
Das Denkmal für Fürst Wladimir
Der arbeitsfreie Feiertag wurde im Jahr 2005 eingeführt – als Ersatz für den Tag der Oktoberrevolution. Er wird am 4. November begangen und bezieht sich auf ein Ereignis aus dem Jahr 1612, als ein Volksaufstand die polnisch-litauischen Besatzer aus Moskau vertrieb. Der Feiertag soll den Zusammenhalt der russischen Gesellschaft angesichts äußerer Bedrohungen symbolisieren – über ethnische und religiöse Grenzen hinweg.

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2009 wurde Kirill zum Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche gewählt. Als solcher setzte er sich für ein stärkeres soziales Engagement der Kirche und eine bessere Klerikerausbildung ein. Gleichzeitig geriet er aufgrund der Annäherung der Kirche an den Kreml und mehrerer Korruptionsskandale in die Kritik.

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Die Kiewer Rus war ein eigenständiges Großreich von 882 bis 1240. Es erstreckte sich über Teile der heutigen Staatsgebiete Russlands, der Ukraine und Belarus’. Die Kiewer Rus stellte einen Herrschaftsverband dar, der aus mehreren Teilfürstentümern bestand und von der Rurikiden-Dynastie regiert wurde. Dabei galt Kiew als Macht-, Handels- und Kulturzentrum. 1240 wurde die Kiewer Rus während des „Mongolensturms“ fast volerobert. Bis heute nimmt sie einen zentralen Stellenwert in der Gründungsgeschichte des russischen, ukrainischen und belarussischen Staates ein.
Die Russische Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

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Im November 2016 bekommen die Einwohner Moskaus ein neues Herrscherdenkmal geschenkt. Im Zentrum der Stadt, in Sichtweite des Kreml steht nun in monumentaler Größe mit Schwert und Kreuz: Fürst Wladimir I., der vor über 1000 Jahren sein ostslawisches Reich taufen ließ. Zur Eröffnung erscheinen die obersten Repräsentanten von Staat und Russischer Orthodoxer Kirche. Es ist der 4. November, der Tag der nationalen Eintracht, und Präsident Wladimir Putin würdigt die Entscheidung seines Namenspatrons, sich und seine Untertanen im Jahr 988 taufen zu lassen. Wladimirs Entscheidung sei zur „gemeinsamen geistigen Quelle der Völker Russlands, von Belarus und der Ukraine“ geworden. In seinem Grußwort ergänzt der Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, Kirill I., das Denkmal für Fürst Wladimir sei „ein Symbol der Einheit aller Völker, deren Vater er ist, und das sind die Völker der historischen Rus, die heute innerhalb der Grenzen vieler Staaten leben“. Mit solchen Aussagen untermauern Präsident und Patriarch die These von der staatlichen Kontinuität zwischen Kiewer Rus und Russländischer Föderation sowie der Einheit der drei orthodoxen „Brudervölker“ der Russen, Belarussen und Ukrainer.
Die wachsende Bedeutung Wladimirs in der russischen Geschichtspolitik spiegelt die Entwicklung der russisch-ukrainischen Beziehungen seit den frühen 2010er Jahren wider. 2013 scheinen die Zeichen noch auf Annäherung der beiden Nachbarstaaten zu stehen. In diesem Jahr feiert die Russische Orthodoxe Kirche den 1025. Jahrestag der Christianisierung der Kiewer Rus. Die gemeinsamen Feierlichkeiten beginnen in Moskau und finden in Kiew ihren Höhepunkt. Am Festakt in der ukrainischen Hauptstadt nehmen die damaligen Präsidenten Russlands und der Ukraine, Wladimir Putin und Viktor Janukowitsch, sowie die höchsten Würdenträger des Moskauer Patriarchats teil.
Text: Frithjof Benjamin Schenk, Foto: Anonym, 29. Juni 2021
Höhe: 17 Meter mit Sockel
Bildhauer: Salawat Schtscherbakow
Einweihung: 4. November 2016
Kosten: 150 Millionen Rubel (ca. 2,1 Mio. Euro)
Finanzierung: Spendensammlung der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft
Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

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 Der Krieg im Osten der Ukraine ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Ukraine wirft dem Nachbarland Russland vor, die Rebellen mit Personal und Waffen zu unterstützen, was Russland bestreitet. Der Krieg kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Eine anhaltende Waffenruhe konnte trotz internationaler Vermittlungsbemühungen bisher nicht erreicht werden.

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Nur fünf Jahre später ist an eine gemeinsame russisch-ukrainische Feier des 1030. Jahrestages der Christianisierung der Rus nicht mehr zu denken. Die russische Annexion der Krim 2014 und der nicht deklarierte Krieg im Osten der Ukraine haben dem gemeinsamen Gedenken der Nachbarstaaten die Grundlage entzogen. Um den vermeintlich historischen Anspruch Russlands auf das Territorium der Krim zu untermauern, mobilisieren die Regisseure der russischen Geschichtspolitik auch Fürst Wladimir I.
Wladimir der Heilige und die sakrale Krim
Mit der Annahme des Christentums durch Großfürst Wladimir im Jahr 988 begann die Christianisierung des Kiewer Reiches. Wladimir gehört zu den russischen Nationalheiligen. In der Gegenwart dient er als Symbolfigur sowohl russischer als auch ukrainischer Staatlichkeit.

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War die Krim schon immer russisch? Entsprach die Angliederung der Krim dem Völkerrecht? Und was hat das alles mit einer vermeintlichen Politik der Eindämmung Russlands zu tun?

13 WissenschaftlerInnen kommentieren Putins Rede vom 18. März 2014
Name Russlands (Orig. Imja Rossija) war eine aus zwölf Episoden bestehende Fernsehsendung des russischen staatlichen Fernsehsenders Rossija und der Sendeanstalt WIDgital aus dem Jahr 2008. In der Sendung wird von bedeutenden Persönlichkeiten berichtet, die Russland und seine Geschichte geprägt haben – darunter Alexander Newski, Dimitri Mendelejew und Fjodor Dostojewski. Über welche Persönlichkeiten berichtet werden sollte, entschieden die Zuschauer in Umfragen übers Fernsehen, Internet oder Radio.
Das wird bereits im März 2014 deutlich: In der Rede, in der Wladimir Putin den Anschluss der Krim an die Russische Föderation verkündet, versucht er die Rechtmässigkeit der Annexion auch mit Verweis auf die Taufe des Fürsten im Jahr 988 zu begründen. „Die alte Rus“, so Putin, sei „die gemeinsame Quelle“ des zusammengehörenden Volkes der Ukraine und Russlands. Auf der Krim sei „buchstäblich alles von unserer gemeinsamen Geschichte und unserem gemeinsamen Stolz durchdrungen. Hier liegt die antike Stadt Chersones, wo der Heilige Fürst Wladimir die Taufe empfing. Seine geistig-spirituelle Heldentat – die Hinwendung zum orthodoxen Christentum – war entscheidend für das gemeinsame Fundament aus Kultur, Werten und Zivilisation, das die Völker Russlands, der Ukraine und Belarus vereint“. Später betont Putin, die Krim habe für Russland eine vergleichbare „sakrale Bedeutung“, wie der Tempelberg in Jerusalem für Juden und Muslime. Was der russische Präsident nicht sagt: Fürst Wladimir und der angebliche Ort seiner Taufe haben im russischen Geschichtsbewusstsein bislang keine prominente Rolle gespielt.

Tatsächlich nahm Fürst Wladimir im russischen Geschichtsbewusstsein in den 1990er und frühen 2000er Jahren eine eher untergeordnete Rolle ein. Als 2008 die Fernsehsendung Imja Rossii (dt. Der Name Russlands) das russische TV-Publikum zur Wahl der wichtigsten Persönlichkeit der eigenen Geschichte aufrief, schaffte es Wladimir noch nicht einmal unter die „Top 50“. Anders in der Ukraine: Hier avancierte Fürst Wolodymyr I. nach dem Zerfall der UdSSR zu einer der wichtigsten historischen Symbolfiguren in dem nun unabhängigen Staat. Als Motiv für die Gestaltung des neuen Ein-Hrywnja Geldscheins griff man auf ein „Portrait“ Wolodymyrs I. zurück. Die Rückseite der Note schmückte in den 1990er Jahren ein Bild der Stadt Chersones auf der Krim, wo der Fürst angeblich getauft wurde. Auch das neue ukrainische Staatswappen, der Dreizack, ist ein Herrschaftssymbol aus der Zeit der Kiewer Rus.
In Russland ergeben sich 2014 aus der historischen Begründung der Krim-Annexion die nächsten geschichtspolitischen Schritte fast zwangsläufig. Mit Ausstellungen, Historienfilmen und populärwissenschaftlichen Geschichtsbüchern wird nun die Erinnerung an Fürst Wladimir I. systematisch gefördert.

Im Mai 2014 unterschreibt Wladimir Putin einen präsidialen Ukas, in dem er ein umfangreiches Festprogramm zum 1000. Todestag von Fürst Wladimir im Jahr 2015 anordnet. Um die Figur Wladimirs I. für alle Zeiten im russischen Geschichtsbewusstsein zu verankern, braucht es in erster Linie ein sichtbares Denkmal für den Fürsten in der russischen Hauptstadt – nach Möglichkeit größer als jenes in Kiew aus dem 19. Jahrhundert.
Wladimir und die historische Begründung der Krim-Annexion
Die Anfänge der Verehrung Fürst Wladimirs als Heiliger liegen im Dunkeln. Spätestens seit dem 14. Jahrhundert gedachte man des „apostelgleichen Fürsten“ in russisch-orthodoxen Gottesdiensten. 1853 wurde dem Fürsten in Kiew hoch über dem Ufer des Dnjepr ein über 20 Meter hohes Denkmal errichtet. Die Statue gilt bis heute als Wahrzeichen der Stadt.
Foto: gemeinfrei/Library of Congress
Im Jahr 2012 per Erlass von Wladimir Putin gegründet, soll die Gesellschaft die militärhistorische Forschung populärer machen, patriotische Werte nähren und auch für den Dienst in der Armee werben. Sie kümmert sich zudem um die Denkmalpflege. Der staatliche Zuschuss zu ihrem Budget belief sich 2015 auf 325 Millionen RUB (damals 4,4 Millionen EUR). In Kuratorium und wissenschaftlichem Beirat sind viele Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes vertreten. Präsident der RWIO ist der ehemalige russische Kulturminister und Historiker Wladimir Medinski.
Der ursprüngliche Plan, das Moskauer Denkmal 2015 hoch über dem Ufer der Moskwa auf den Moskauer Sperlingsbergen zu errichten, scheitert am Protest der Anwohner. Als alternativen Standort wählt man schließlich den Borowitzki-Platz in der Nähe des Kreml, wo der Heilige Wladimir 2016 – mit einem Jahr Verspätung – eintrifft.

Das Monument in Moskau ist bei weitem nicht das einzige seiner Art: Seit 2014 sprießen in ganz Russland neue Wladimir-Denkmäler wie Pilze aus dem Boden. Die treibende Kraft ist in den meisten Fällen die Orthodoxe Kirche, die Regierung oder lokale Verwaltungen. Daneben engagieren sich die Russische Militärhistorische Gesellschaft (RWIO) und andere halb-staatliche Organisationen für die Erinnerung an den Fürsten. Das Moskauer Denkmal wird beispielsweise durch eine Spendenaktion der RWIO finanziert.
Denkmäler für Fürst Wladimir in Kiew (1853) und Russland (seit 1998)
Infografik: Anastasia Zotova
Auch das antike Chersones als Ort der Taufe Wladimirs und der Kiewer Rus sollte dauerhaft auf den kognitiven Landkarten der Russinnen und Russen festgeschrieben werden. Zu diesem Zweck bringt die russische Zentralbank 2017 eine neue 200-Rubel-Note in Umlauf, auf deren Rückseite die Ruinen von Chersones sowie die Umrisse der Krim-Halbinsel zu sehen sind.
Im ideologischen Kampf um den Anspruch Russlands auf die Krim kämpft Fürst Wladimir I. heute an vorderster Front mit. Bezeichnend ist dabei, dass die bronzene Herrscherfigur auf dem Moskauer Borowitzki-Platz – anders als sein Gegenüber in Kiew – ein Schwert in seiner Linken hält. Eins scheint dabei sicher: So lange die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten von militärischen Konflikten geprägt sind, wird auch auf diesem Kampfplatz der Geschichtspolitik kein Frieden einkehren.
→ Kappeler, Andreas (2019): Die Kiewer Rus: Geteilte Erinnerung in der Ukraine und in Russland, in: BPB-Dossier Russland
Zum kanonischen Territorium der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) wird das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (mit Ausnahme von Armenien und Georgien), aber auch China, Japan und die Mongolei gezählt. Auf dem kanonischen Territorium sieht sich die ROK als alleinige legitime Kirche an, das geistliche Leben der Gläubigen zu gestalten. Alle orthodoxen Kirchen auf diesen Gebieten unterstehen dem Moskauer Patriarchat, jedoch gibt es verschiedene Organisationsformen mit unterschiedlich weitreichenden Selbstverwaltungsrechten.
Wladimir I. und die Idee der dreieinigen „allrussischen Nation“
Beim aktuellen Streit zwischen der Ukraine und Russland um die Zugehörigkeit Fürst Wladimirs zu der einen oder anderen Nationalgeschichte geht es nicht nur um die Frage, welcher Staat seine Ansprüche auf die Krim historisch besser begründen kann. Hinter der Debatte steht ein älterer Streit darüber, welcher Staat sich als legitimer Erbe der Kiewer Rus betrachten darf, ob der Anspruch der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche auf Eigenständigkeit berechtigt ist und – noch viel grundlegender – ob die Ukrainer als eigene Nation oder Teil der dreieinigen „allrussischen Nation“ – bestehend aus (Groß-)Russen, Ukrainern und Belarussen – zu betrachten sind. In allen drei Fragen könnten die offiziellen Positionen in der Ukraine und Russlands nicht weiter auseinanderliegen.
Aus russischer Sicht ist die politische Kontinuität „von der Kiewer Rus seit dem 9./10. Jahrhundert über das Moskauer Zartum des 16. und 17. bis zum russländischen Imperium des 18. und 19. Jahrhunderts“ und weiter zur Sowjetunion und zur heutigen Russländischen Föderation eine nicht hinterfragbare Tatsache. In sowjetischer Tradition, der zufolge die Kiewer Rus als „gemeinsame Wiege“ der Russen, Ukrainer und Belarussen zu betrachten ist, wird Wladimir I. im offiziellen russischen Diskurs als „Vater“ dieser drei „Kinder“ vorgestellt.
Diese historische Lesart wurde von der ukrainischen Nationalbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts grundlegend in Frage gestellt. Dem russischen Narrativ stellte man die Idee einer eigenständigen, ukrainischen Nationalgeschichte entgegen. Diese habe in der Kiewer Rus ihren Anfang genommen und im unabhängigen ukrainischen Staat des Jahres 1918 beziehungsweise 1991 ihren vorläufigen Endpunkt erreicht. Aus ukrainischer Sicht war es nur folgerichtig, dass auf die staatliche Unabhängigkeit im Jahr 2018 auch die Etablierung der autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine folgte. Dies wiederum widerspricht fundamental der Idee von der Zugehörigkeit der ganzen Ukraine zum Kanonischen Territorium der ROK bzw. des Moskauer Patriarchats.
Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Er forscht dort unter anderem zu Erinnerung und Konzepten kollektiver Identität in Osteuropa.
Frithjof Benjamin Schenk