Der Glanz des Zarenreiches als Machtressource: Wie in alten Gemäuern Großmachtansprüche und autoritäre Herrschaft inszeniert werden.
Der Große Kremlpalast
Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

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Als Vaterländischer Krieg ging Napoleons gescheiterter Feldzug gegen Russland im Jahr 1812 in die russische Geschichtsschreibung ein. Die russische Armee, für die der Überfall unerwartet kam, unternahm einen über mehrere Wochen dauernden Rückzug bis in die Tiefe des Landes hinein. Die erste große und blutige Schlacht, die für den Ausgang des Krieges entscheidend zu sein schien, fand in Borodino bei Moskau statt. Zwar hat die Grande Armée taktisch gesiegt und im Anschluss Moskau besetzt, jedoch waren die Verluste so groß, dass Napoleon bald selbst den Rückzug antreten musste. Im Dezember 1812 wurde Napoleons Armee an der russischen Grenze nahezu vollständig vernichtet.
Zar Alexander III. (1845–1894) regierte Russland als vorletzter Kaiser (1881–1894). Seine Regierungszeit prägten eine repressive Innen- und eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik. Am Ende des 19. Jahrhunderts fühlte er sich zunehmend vor Herausforderungen der Moderne gestellt, sei es in Gestalt politischer Ideen wie des Liberalismus oder durch technische Innovationen wie dem Projekt der Transsibirischen Eisenbahn.

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Nikolaus II. (1868–1918) war der letzte russische Zar. Der Sohn Alexanders III. regierte von 1894 bis zu seiner erzwungenen Abdankung am 02. (15.) März 1917. Unter seiner Herrschaft verlor Russland nicht nur den Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05, sondern erlebte auch die Revolution von 1905, die zur Einführung des ersten russischen Parlaments, der Duma, führte. In der historischen Forschung wird Nikolaus II. oft als eher schwacher und unentschlossener Herrscher dargestellt. Im Juli 1918 wurde er gemeinsam mit seiner Familie von den Bolschewiki ermordet. Im Jahr 2000 wurden er und seine Familie von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen.

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Alexander II. (1818–1881) ging für seine beispiellosen Reformen in Militär, Justiz und Bildungswesen in die Geschichte ein. Die wohl entscheidenste Reform war das Ende der Leibeigenschaft der Bauern im Jahr 1861, weswegen Alexander II. auch als „Befreier-Zar“ bezeichnet wird. Die Reform erfolgte gegen den Widerstand der russischen Aristokratie. Anhängern kommunistischer und sozialistischer Kreise gingen die Reformen jedoch nicht weit genug. 1881 wurde Alexander II. durch ein Attentat der linksterroristischen Organisation Narodnaja Wolja ermordet.
Auf der menschenleeren Uferstraße entlang des Kreml bewegt sich ein Autokorso Richtung Roter Platz, Motorräder begleiten ihn. Die Fahrzeuge passieren die Basilius-Kathedrale und rollen durch das Erlösertor in den Kreml. Die Wagen halten, aus einem steigt ein Mann aus, der vor einem Jahr selbst in Russland noch weitgehend unbekannt war, und der sich, so der Fernsehmoderator, auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere befinde: Wladimir Putin, der neu gewählte Präsident der Russländischen Föderation, kommt am 7. Mai 2000 zu seiner ersten Inauguration.

Er wird eine strenge Machtvertikale aufbauen, das politische Leben und auch die unabhängigen Medien immer stärker kontrollieren und mit der Annexion der Krim 2014 Russland das Großmacht-Gefühl zurückgeben. 2000 allerdings war das alles kaum vorhersehbar. Wladimir Putin kann von den geschichtspolitischen Vorbereitungen seines Vorgängers Boris Jelzin profitieren. Er legt den Amtseid nicht im ehemaligen sowjetischen Kongresspalast ab, sondern im neu restaurierten, prächtigen Großen Kremlpalast, der aus der Blütezeit des russischen Zarenreichs stammt. Heute steht das Gebäude für den erneuerten imperialen Anspruch der russischen Regierung, die an die Großmachtambitionen des Zarenreichs und der Sowjetunion anknüpfen möchte.
Putin betritt den prachtvollen Palast und schreitet die Treppe hinauf. Links und rechts stehen Gardisten in Paradeuniform – sie entspricht der Uniform der Zarenarmee von 1812. Er schreitet durch die geräumigen Säle voller Gäste. Umrahmt wird das Ganze von feierlicher Musik. Von den in Gold gekleideten Wänden blicken die Helden der russischen Geschichte auf ihn herab: Fürsten, Zaren und Heerführer. Die gewölbten Decken und Portale schmücken doppelköpfige Adler des Russischen Reiches. Endlich betritt er den Andreas-Saal. Dies war der Thronsaal der Zaren. Im 19. Jahrhundert weilten hier Alexander II., Alexander III. und Nikolaus II. beim feierlichen Empfang nach der Krönung. Statt eines Thrones findet sich heute eine Erhöhung im Saal, dekoriert mit der russischen Trikolore, Weiß-Blau-Rot. Darüber wieder das Wappen des russischen Kaiserreiches und außerdem, in Gold, das Auge der Vorsehung – ein Symbol Gottes.
Text: Ulrich Schmid, Foto: Sergey Novikov, 29. Juni 2021
Höhe der Kuppel: 45 Meter
Ausdehnung: 125 Meter mal 88 Meter
Fläche: 20.000 Quadratmeter
Anzahl Räume: Über 700
Architekt: Konstantin Thon (1794–1881)
Bauzeit: 1838–1849
Einweihung: 1849
Kosten: 150 Millionen Rubel (das Jahresgehalt eines mittleren Beamten betrug zu dieser Zeit 1000 Rubel)
Der Große Kremlpalast im Querschnitt.
Infografik: Anastasia Zotova
Putins Amtsantritt im imperialen Glanz mag schlicht ein Tribut an die Tradition sein. Doch gleichzeitig sind der Ort und die bis ins Detail inszenierte Inauguration von höchster Symbolkraft. Die russische Regierung unter der Führung von Präsident Putin achtet sorgfältig auf die Wahrung einer demokratischen Fassade. Gleichwohl beruht die Legitimation der Regierung nicht in erster Linie auf Wahlen, sondern auf der Propagierung eines gesellschaftlichen und politischen Wertesystems, das nicht zur Disposition steht. Diese scheinbare Alternativlosigkeit begründete bereits den zaristischen und später den sowjetischen Machtanspruch: Auf seinem Gottesgnadentum beharrte Nikolaus II. bis zuletzt. Die Führungsrolle der Kommunistischen Partei wurde erst 1990 aus der Verfassung der Sowjetunion gestrichen. In dieser Tradition kommt der visuellen Inszenierung der Macht auch im modernen Russland eine gesteigerte Bedeutung zu.

Mit dem Ort der Inauguration erschöpft sich die Anknüpfung an die Inszenierung der imperialen Macht noch nicht. Diese findet seit 2008 zu den Klängen des Krönungsmarsches statt, den Pjotr Tschaikowski 1883 für die Thronbesteigung von Alexander III. komponiert hat. Und Zar Alexander III. spielt eine besondere Rolle in der heutigen Machtsymbolik des Kreml. Nicht zufällig verglich der damals noch weitgehend unabhängige Fernsehsender NTW die zweite Inauguration von Wladimir Putin im Jahr 2004 mit einer Parade des Zaren Alexander III. aus Nikita Michalkows Film Der Barbier von Sibirien (1998). Der Reporter hielt ironisch fest: „Das war keine Inauguration, sondern die Krönung des Präsidenten." An diesem Ritual hat sich bis heute wenig geändert, allerdings sind solch sarkastische Kommentare in den Staatsmedien mittlerweile undenkbar.
Politisches Wertesystem, das nicht zur Disposition steht
Alexander III. ist Putins Lieblingszar, ganz im Gegensatz zu Nikolaus II., der im März 1917 abgedankt hatte und deshalb bei vielen als Schwächling gilt. Der Friedenszar Alexander III., der keinen einzigen Krieg führte, steht hingegen für eine autoritäre Innenpolitik, die den Terrorismus kompromisslos bekämpft, und eine selbstbewusste Außenpolitik, die sich nicht von der Rücksicht auf Allianzen beeindrucken lässt. Für Putin ist klar, dass nur eine bündnisfreie Außenpolitik wirklich souverän sein kann. Er spielt deshalb in seinen Reden gerne auf das Bonmot an, das Alexander III. zugeschrieben wird: „Russland hat nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Flotte." Dieses Motto steht auch auf dem Sockel des neuen Denkmals für Alexander III., das Putin 2017 persönlich im Park des Liwadija-Palastes auf der annektierten Krim eingeweiht hat. Im Juni 2021 wird von Putin ein weiteres Denkmal für Alexander III. eingeweiht, diesmal in Gattschina, einer Kleinstadt bei Sankt Petersburg.
Zwei Verbündete Russlands: seine Armee und seine Flotte
Im Rückgriff auf die Zeiten Alexanders III. stehen „die Armee und die Flotte" bis heute im Mittelpunkt der russischen Geschichtspolitik.
Foto © kremlin.ru unter CC BY 4.0
Im Jahr 2012 per Erlass von Wladimir Putin gegründet, soll die Gesellschaft die militärhistorische Forschung populärer machen, patriotische Werte nähren und auch für den Dienst in der Armee werben. Sie kümmert sich zudem um die Denkmalpflege. Der staatliche Zuschuss zu ihrem Budget belief sich 2015 auf 325 Millionen RUB (damals 4,4 Millionen EUR). In Kuratorium und wissenschaftlichem Beirat sind viele Vertreter der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes vertreten. Präsident der RWIO ist der ehemalige russische Kulturminister und Historiker Wladimir Medinski.
Als Augustputsch wird der Umsturzversuch bezeichnet, der zwischen dem 19. und dem 21. August 1991 in Moskau stattfand. Eine Gruppe führender Staatsfunktionäre, die sich als Staatskomitee für den Ausnahmezustand bezeichnete, ergriff die Macht mit dem Ziel, die Sowjetunion vor dem Zerfall zu bewahren. Doch Boris Jelzin rief zum Widerstand auf, tausende Menschen schlossen sich an und gingen auf die Barrikaden. Das Scheitern des Umsturzversuchs beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion.

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Die Weiterführung der imperialen Tradition ist allerdings keine Neuerung der Ära Putin. Bereits im November 1993 hatte Präsident Boris Jelzin mit dem Doppeladler ein neues Staatswappen eingeführt, das explizit der „Wiederherstellung der historischen Symbolik des russischen Staates" dienen sollte. Boris Jelzin wollte einen klaren Schlussstrich unter den kommunistischen Irrweg ziehen. Nach dem Putschversuch im August 1991 hatte er sowohl die KPdSU als auch die Parteiorganisation der RSFSR verboten. Dieser Impetus äußerte sich auch im forcierten Umbau des Großen Kremlpalastes. Die zaristischen Andreas- und Alexander-Säle erstrahlten bald wieder im ursprünglichen Prunk. Dafür wurde in den 1990er Jahren, mitten in einer gravierenden Wirtschaftskrise eine Summe von 335 Mio. US-Dollar aufgewendet.
Imperiale Symbolik
Im Rückgriff auf die Zeiten Alexanders III. stehen „die Armee und die Flotte" bis heute im Mittelpunkt der russischen Geschichtspolitik – als scheinbar „einzige Verbündete" einer Regierung, die das eigene Staatsvolk in einen geistigen Belagerungszustand versetzt und ihm einbläut, es sei „von Feinden umzingelt". 2012 gründete Putin die Militärhistorische Gesellschaft, die sich unter anderem für den Erhalt und die Popularisierung russischer Kriegskunst in der Vergangenheit einsetzt. Gleichzeitig hat sie sich der Erziehung der russischen Staatsbürger im „Geiste der Liebe, Treue und des selbstlosen Dienstes für das Vaterland" verschrieben. Sie hat seither zahlreiche patriotische Denkmäler in Russland aufgestellt, etwa auch das Denkmal für Fürst Wladimir in Moskau.
War die Krim schon immer russisch? Entsprach die Angliederung der Krim dem Völkerrecht? Und was hat das alles mit einer vermeintlichen Politik der Eindämmung Russlands zu tun?

13 WissenschaftlerInnen kommentieren Putins Rede vom 18. März 2014
Wjatscheslaw Wolodin war von Dezember 2011 bis Oktober 2016 erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, in der er nach langjähriger regional- und parteipolitischer Karriere für die Innenpolitik verantwortlich war. In dieser Eigenschaft war Wolodin bestrebt, Russland nach außen als nicht-westliche Demokratie zu legitimieren, nach innen – nach den Protesten 2011/12 – auf föderaler und regionaler Ebene das Parteiensystem um die Exekutive zu konsolidieren und oppositionelle Akteure zu marginalisieren. Im Oktober 2016 wurde Wolodin zum Vorsitzenden der Staatsduma gewählt.

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Die imposante Szenerie des Großen Kremlpalastes bildet in der Ära Putin den Hintergrund einer imperialen Renaissance. Dass an den Wänden des Georg-Saals auch die Wappen der ehemaligen Reichsterritorien Finnland und Polen prangen, unterstreicht die Kontinuität des russischen Großmachtanspruchs.

Am 18. März 2014 hielt Präsident Putin vor den Mitgliedern des Föderationsrates und der Duma eine magistrale Rede, in der er die „Wiedervereinigung" der Krim mit Russland feierte. Der Staatsakt fand im Georg-Saal des Kremlpalastes statt. Anwesend waren Vertreter aller Regionen und Religionen der Russischen Föderation. In der Rede zur Lage der Nation am 4. Dezember 2014, die ebenfalls im Georg-Saal stattfand, erläuterte Putin die Idee des russländischen Staatsvolkes: Russland sei eine „vielgesichtige, aber monolithische Nation" (mnogolikaja, no monolitnaja nazija).

Putin begreift sich selbst bereits nicht mehr als Inhaber eines Amtes, das auch von einer anderen Person ausgeübt werden könnte. Er sieht sich vielmehr als Garant eines politischen Systems, das nicht nur die eigene Stabilität, sondern auch die Stabilität seiner Verbündeten sichern kann. Damit inszeniert er eine absolute, geradezu imperiale Macht, die als alternativlos dargestellt wird. Formelhaft hat der Vorsitzende der Duma, Wjatscheslaw Wolodin, diesen Anspruch im Jahr 2014 in eine prägnante Formel gefasst: „Solange es Putin gibt, gibt es Russland. Ohne Putin – kein Russland".
Ohne Putin – kein Russland
System Putin und Ende der Geschichte
Die imperiale Vergangenheit ist eine der wichtigsten Machtressourcen in Putins Russland. Immer wieder wird die „tausendjährige Geschichte" des russischen Staates beschworen. Die Geschichtspolitik des Kreml geht davon aus, dass im Hinblick auf die russische Staatlichkeit das Ende der Geschichte eingetreten sei. Russland hat alle möglichen Staatsformen ausprobiert: das mittelalterliche Wetsche (Stadtbürgerversammlung), die oligarchie-artige Bojarenherrschaft, die zaristische Monarchie, die liberale Demokratie, die kommunistische Diktatur, die Anarchie der 1990er Jahre. Das System Putin zieht nun die nötigen Schlüsse aus dieser schwierigen historischen Erfahrung und präsentiert sich als alternativlose Regierungsform für Russland.
Die prächtige Visualisierung der heutigen Staatsmacht führt zu einer Sakralisierung des aktuellen Systems. Die Herrlichkeit der Staatsinsignien, das imposante Erscheinungsbild der Streitkräfte und die – dem politischen Tagesgeschäft entrückte – Position des Präsidenten führen zu einer weitgehenden Entpolitisierung der Gesellschaft. Die russische Regierung nimmt für sich in Anspruch, die richtigen konservativen Werte der Gesellschaft auf gültige Weise zu repräsentieren. Diese Werte haben sich aus Sicht des Kreml historisch etabliert und bilden eine höhere Wahrheit, die über der demokratischen Willensbildung steht.
Die Betonung des imperialen Status Russlands hat auch wichtige außenpolitische Implikationen. Putin möchte alle wichtigen Fragen der Weltpolitik im Kreis der offiziellen Atommächte besprechen. Damit fordert er letztlich eine Rückkehr der Pentarchie aus dem 19. Jahrhundert – freilich nicht mehr in einem europäischen, sondern in einem globalen Kontext. In einem programmatischen Artikel aus dem Juni 2020 rief Putin vor dem Hintergrund des 75-jährigen Sieges der Alliierten über Nazi-Deutschland die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates auf, gemeinsam den Frieden zu sichern und gegen Terrorismus vorzugehen. Darin spiegelt sich das Ziel des Kreml, auf der gesamten Welt den politischen Status quo zu bewahren.
Ulrich Schmid
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen (Schweiz). Der Fokus seiner Forschung liegt auf Politik und Medien in Russland und Nationalismus in Osteuropa.