Weithin sichtbares Zeichen der religiösen Wiedergeburt: Wie auf den Fundamenten eines Schwimmbads das kirchliche Zentrum Russlands entstand.
Die Christus-Erlöser-Kathedrale
 Pussy Riot ist eine Gruppe von Kunstaktivistinnen. Ab Herbst 2011 traten Frauen in Sturmhauben und bunten Kleidern moskauweit an öffentlichen Orten mit feministisch motivierten Punkperformances auf.

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Die Russische Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Zahl von Gläubigen in Russland. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“ als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs.

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In unmittelbarer Nähe zum Kreml und dem Roten Platz gelegen, prägt sie die Skyline des Moskauer Zentrums: die Christus-Erlöser-Kathedrale. Mit ihrem monumentalen weißen Korpus und den goldenen Kuppeln wirkt sie wie eine mächtige byzantinische Kirche, entstanden in der Blütezeit des Moskauer Reiches. Tatsächlich ist diese größte Kirche Russlands gerade einmal 20 Jahre alt. Der Vorgängerbau von 1883 wurde in der Stalinzeit gesprengt, im Jahr 2000 erfolgt die Wiedereröffnung. Seitdem ist die Christus-Erlöser-Kathedrale weithin sichtbares Zeichen der religiösen, aber auch der nationalen und staatlichen Wiedergeburt Russlands. Sie symbolisiert gleichzeitig die enge Beziehung zwischen Kirche und staatlicher Macht.
Am 21. Februar 2012 recken vier grellbunt gekleidete Frauen mit wollenen Sturmmasken Beine und Fäuste in die Höhe und singen ihr „Gebet“ vor dem Altar der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau: „Bogorodiza, dewo, Putina progoni!“, „Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin!“ Die Performance dauert genau 41 Sekunden, dann werden die Aktivistinnen von Sicherheitsleuten der Kathedrale fortgeschafft. In den folgenden Tagen gehen die in einen Musikclip montierten Filmaufnahmen um die Welt, und der Name dieser Gruppe ist auf einmal in aller Munde: Pussy Riot.

Dieses sogenannte Punkgebet ist eine gewaltige Provokation – für die Russische Orthodoxe Kirche, den Staat und auch für viele Gläubige. Mit dem Lied protestiert Pussy Riot gegen die Allianz von Kirche und Staat und der Ort dafür ist sehr bewusst gewählt. Das Gotteshaus dient nicht nur als Kathedrale des Bistums Moskau, dessen Bischof immer der russische Patriarch ist. Sie ist auch ein sichtbares Symbol der Verflechtung von Staat und Kirche im heutigen Russland. Die heftigen Reaktionen der kirchlichen wie der säkularen Öffentlichkeit – zwei Teilnehmerinnen der Gruppe werden wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ zu zwei Jahren Haft verurteilt – zeigen, dass die Band Pussy Riot mit seinem Auftritt in der Kathedrale einen sensiblen Nerv getroffen hat.
Text: Thomas Bremer, Foto: Max Sher, 29. Juni 2021
Bauwerk: Christus-Erlöser-Kathedrale, Hauptkirche der Russischen Orthodoxen Kirche
Lage: Moskau, Moskwa-Ufer (Wolchonka 15)
Bauzeit: erster Bau 1839–1883, Sprengung 1931, jetziger, äußerlich fast identischer Bau 1995–2000
Einweihung: 19. August 2000
Dimensionen: 80 m x 80 m Fläche (Kreuzform), 103 m Höhe, 79 m Innenhöhe
Finanzierung: Öffentliche Hand, Kirche, Spenden
Architekten: Konstantin Thon (1794–1881), Neubau: Alexej Denisow, Surab Zereteli, Michail Posochin
Dieses sogenannte Punkgebet ist eine gewaltige Provokation. Die heftigen Reaktionen der kirchlichen wie der säkularen Öffentlichkeit zeigen, dass Pussy Riot mit seinem Auftritt in der Kathedrale einen sensiblen Nerv getroffen hat.
Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Zur Geschichte des Wiederaufbaus: de Keghel, Isabelle (1999): Die Moskauer Erlöserkathedrale als Konstrukt nationaler Identität. Ein Beitrag zur Geschichte des „patriotischen Konsenses“, in: Osteuropa, 49, S.145-159
Es ist während der Perestroika, Ende der 1980er Jahre, als erstmals laut über einen Wiederaufbau der Christus-Erlöser-Kathedrale nachgedacht wird. An der Stelle der in den 1930er Jahren gesprengten Kirche befindet sich ein riesiges, beheizbares Freibad. Perestroika und Glasnost schaffen den Freiraum, um über die Wiedererrichtung dieser und anderer zerstörter Kirchen zu diskutieren. Gleichzeitig wird auch das Verhältnis zwischen dem Staat und der orthodoxen Kirche neu definiert.

Religion gilt nun nicht mehr als rückschrittlich und als Relikt der Vergangenheit, sondern sie wird von vielen als traditionsreich und als legitime Stimme in einer sich rasch entwickelnden gesellschaftlichen Vielfalt gesehen. Schnell gilt die Orthodoxie, die Mehrheitsreligion in Russland, wieder als die für Russland angemessene Form des Christentums. Ein Bekenntnis zur Orthodoxie bedeutet damit in der Regel auch ein Bekenntnis zur russischen Nation und zum russischen Staat. Auch die Initiative zum Wiederaufbau der Kathedrale kommt 1988/89 gar nicht aus der Kirche selbst, sondern aus russisch-national gesinnten Kreisen. Dabei spielt das Thema Religion in der Debatte zunächst keine herausragende Rolle. Der Bau der Kirche wird nicht aus religiösen Gründen verlangt, sondern als Zeichen der nationalen und staatlichen Wiedergeburt.
Rückblende: Nationale und staatliche Wiedergeburt
Erst nach einigen Jahren nimmt sich auch die Russische Orthodoxe Kirche der Sache an. 1994 beschließt sie zusammen mit der Moskauer Stadtverwaltung den Wiederaufbau. Zwar werden die Argumente der nationalen Wiedergeburt weiterhin vorgebracht, aber sie sind jetzt verbunden mit dem Ziel einer kirchlichen Renaissance, mit der Betonung von Tradition und Kraft des Glaubens im neuen Russland. Der Bau, der sich in seiner äußeren Form stark an seinem Vorgänger orientiert, ist in kurzer Zeit fertiggestellt. Schon im August 1996 zelebriert der Patriarch den ersten Gottesdienst in der neu geweihten Unterkirche. Im August 2000 wird schließlich die gesamte Christus-Erlöser-Kathedrale offiziell eingeweiht. Seither ist sie als die wichtigste Kirche Russlands im öffentlichen Bewusstsein fest etabliert.

Die Christus-Erlöser-Kathedrale ist nicht das einzige Kirchengebäude in Russland, das nach dem Ende des Kommunismus wieder aufgebaut wird. Seit 1990 werden in Russland Zehntausende Sakralbauten der Kirche zurückgegeben. Verfügte die Orthodoxe Kirche in den Jahren der Perestroika über etwa 6000 Gemeinden, sind es heute weit über 30.000.
Wiederaufbau
Neben wiedererrichteten Gotteshäusern entstehen auch Kirchen-Neubauten an Orten, wo es früher keine gab: Die Städte wachsen, und Religion, besonders die Orthodoxie, wird zu einem Identifikationsangebot. In Moskau startete 2011 ein Programm, das den Neubau von 200 Kirchen vorsah, sodass von jeder Wohnsiedlung aus eine Kirche fußläufig zu erreichen ist. Diesen Plan verwirklichen Kirche und Staat – in diesem Fall die Stadtverwaltung von Moskau – in enger Zusammenarbeit. Die Stadt stellt Grundstücke zur Verfügung und unterstützt die Vorbereitungen sowie den Bau der Kirchen. Aus dem Stadtbudget werden offiziell keine finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt, die Gelder kommen von der Kirche und von Sponsoren.
Im August 2000 wird die Christus-Erlöser-Kathedrale offiziell eingeweiht. Seither ist sie als die wichtigste Kirche Russlands im öffentlichen Bewusstsein fest etabliert.
Foto © Dimitri Duchanin/Kommersant
Am 30. September 2015 fängt Russland an, an der Seite Baschar al-Assads im Syrischen Bürgerkrieg zu kämpfen. Mit den Luftangriffen will der Kreml nach eigenen Angaben vor allem gegen islamistische Terrororganisationen vorgehen. Ist das die ganze Wahrheit? In welchen Rollen finden sich Russland, Europa, die USA? Im dekoder-Dossier „Krieg in Syrien“ gibt es Analysen, Interviews und Hintergründe zu Russlands Einsatz.

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Beides – die Christus-Erlöser-Kathedrale und das „Programm zum Bau von orthodoxen Kirchen in Moskau“, wie es offiziell heißt – verweist auf die enge und oft intransparente Verbindung zwischen orthodoxer Kirche und Staat in Russland. Es ist dabei nicht so, dass die eine Seite die andere ausnutzt. Eher geht es um eine Art von Symbiose in einem passenden Kontext: Der russische Staat verhilft der Kirche zu einer gesicherten Existenz und zu einer gesicherten Rolle in Staat und Gesellschaft; für eine Kirche, die noch vor wenigen Jahrzehnten die Erfahrung heftigster Verfolgungen gemacht hat, ist das nicht wenig. Er begünstigt sie in vielen Anliegen, die ihr wichtig sind – etwa mit der Einführung des Religionsunterrichts in Schulen, dem Zugang zu Hochschulen oder zur Armee.

Die Kirche wiederum unterstützt den Staat, indem sie etwa – auch in Form der Christus-Erlöser-Kathedrale – das Narrativ von der Geschichte Russlands als einer Geschichte militärischer Erfolge gegen Eindringlinge verbreitet, oder auch auf internationaler Ebene, wenn sie beispielsweise die militärische Intervention Russlands in Syrien gutheißt. Die Kirche verleiht dem Staat die Aura einer von Gott gewollten Ordnung. Das geschieht in einem gesellschaftlichen Klima, in dem viele die Positionen gutheißen, die sowohl der Staat als auch die Kirche im politischen Diskurs betonen: die Herausstellung der historischen Errungenschaften Russlands, eine kritische Haltung gegenüber dem Westen, die Betonung von „traditionellen Werten“ (vor allem im Bereich von Ehe und Familie) sowie Verbundenheit mit den benachbarten slawischen Staaten und Nationen.
Symphonie von Kirche und Staat
Die Christus-Erlöser-Kathedrale ist auch ein sichtbares Symbol der Verflechtung von Staat und Kirche im heutigen Russland.
Foto: Wladimir Putin und Patriarch Kirill beim Ostergottesdienst in der Christus-Erlöser Kathedrale, 2015 © Alexej Drushinin/Sputnik
Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

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Viele Menschen, auch Kirchenmitglieder, sehen die Staatsnähe der Kirche jedoch kritisch. Das Punkgebet von Pussy Riot ist zwar das brisanteste und bekannteste, jedoch nicht das einzige Beispiel kirchenkritischen Protests. Als 2017 in Sankt Petersburg das Gebäude der Isaaks-Kathedrale der Kirche zurückgegeben werden soll, sorgt der öffentliche Widerstand dafür, dass sie zu einem Teil weiterhin auch ein Museum bleibt. Bürgerliche Proteste in Jekaterinburg verhindern 2019 den Bau einer neuen Kirche, der eine in der Stadt geschätzte Grünfläche zum Opfer fallen sollte.

Es ist ohne Frage so, dass in der Moderne Allianzen zwischen Staat und Kirche unter Druck geraten. Auch in Russland tun sich zuweilen Risse zwischen beiden Institutionen auf – nicht unbedingt als Anzeichen eines kommenden Bruchs, aber als Hinweise auf eine notwendige Differenzierung unter den Gläubigen. Umfragen zeigen sehr niedrige Zahlen, was den Kirchenbesuch und die Beachtung kirchlicher Regeln angeht. Auch die Zustimmung zur Kirchenleitung lässt unter den Kirchenmitgliedern nach. Dennoch bezeichnen sich regelmäßig mehr als 70 Prozent der Befragten als orthodox – das kann durchaus auch als Zeichen für eine kulturelle und nationale Identifizierung gesehen werden.
Differenzierung der Staat-Kirchen-Beziehung
Die Russische Orthodoxe Kirche ist ein selbstständiger Teil der weltweiten Orthodoxie, und nicht wenige ihrer Charakteristika finden sich auch in anderen orthodoxen Kirchen. Die Beziehung zwischen Staat und Kirche wurde in der byzantinischen Spätantike als „symphonia“ bezeichnet, als Gleichklang zwischen politischer und religiöser Macht. In der Moderne haben sich diese Beziehungen sehr unterschiedlich entwickelt; vor allem seit dem 19. Jahrhundert ist bei vielen orthodoxen Kirchen die Verbindung mit einer Nation sehr wichtig geworden. Die russische Kirche war lange Zeit eher imperial orientiert und sah sich für das gesamte Russische Reich und schließlich für all seine Nachfolgestaaten zuständig, nicht nur für die dort lebenden Russen. Daher versteht sie sich ausdrücklich als „multinational“ (so im 1. Artikel ihres Statuts): der Begriff „russisch“ in ihrem Namen bezieht sich auf die mittelalterliche Rus, das vormoderne gemeinsame Herrschaftsgebilde der ostslawischen Völker. Seit dem Zerfall der UdSSR ist die Russische Orthodoxe Kirche erstmals in der Situation, dass große Teile ihrer Kirchenmitglieder im Ausland leben.
Die Russische Orthodoxe Kirche bietet dem Staat ein identitätsstiftendes und homogenisierendes Narrativ von Russland als einem besonders religiösen Land, das über seine eigenen, christlich geprägten Werte verfügt, die sich von denen anderer Kulturen unterscheiden. Zu Beginn der 2000er Jahre wurde hierfür der Begriff des Russki mir (dt. Russische Welt) verwendet. Demzufolge gibt es eine russische, orthodox geprägte Zivilisation, zu der auch andere Staaten (die Ukraine, Belarus, Republik Moldau u. a.) zählen. Präsident Putin pflegt vom „gemeinsamen Taufbecken“ von Russen, Belarussen und Ukrainern zu sprechen, um die religiöse und kulturelle Zusammengehörigkeit der drei ostslawischen „Brudernationen“ zu unterstreichen.
Nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine war klar, dass sich die Ukraine weder einem solchen kulturellen Raum zurechnen lassen möchte noch einer supranationalen Organisation unter russischer Führung wie der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten wird.
Die schwere kirchliche Krise, die Ende 2018 in der Ukraine ausgebrochen ist, hängt mit dem unerfüllbaren Anspruch der Russischen Orthodoxen Kirche zusammen, religiöses Bindeglied für den gesamten ostslawischen Raum und zugleich staatstragende Kirche in Russland zu sein.

In den orthodoxen Kirchen ist oft ein starker anti-westlicher Zug zu finden. Der Westen – und das meint die vom westlichen, also vom katholischen und protestantischen Christentum geprägten Staaten – wird als dekadent beschrieben, und Aufklärung, Liberalismus, persönliche Freiheiten u. a. werden als historische Fehlentwicklungen verstanden. Dahinter steht häufig ein Menschenbild, das zwischen „Individuum“ und „Person“ unterscheidet: Nur in Gemeinschaft mit anderen, so heißt es in diesem Verständnis, komme der Mensch seiner eigentlichen Bestimmung nach und werde zur Person, individualistische Ansätze seien dagegen unchristlich. Daraus folgt dann häufig ein Vorrang der Gemeinschaft (Familie, Staat, Nation, Gesellschaft) gegenüber dem Einzelnen.
Thomas Bremer ist Theologe. Er unterrichtet an der Universität Münster Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Orthodoxie in Russland, in der Ukraine und auf dem Balkan sowie zwischenkirchliche Beziehungen.

Foto © Niina Into, Helsinki
Thomas Bremer