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Rund um den Kreml
wo Geschichte zu Politik wird – ein Reiseführer
Das Zentrum Moskaus steckt voller Geschichte. Es ist auch eine Bühne der Macht. Gebäude, Plätze und Monumente erzählen von der Vergangenheit – und davon, wie mit ihr heute Politik gemacht wird. In zehn Streifzügen entschlüsseln wir den städtischen Raum.

kreml...
... und die Konzentration der Macht
Roter Platz...
… und der militärische Ruhm
Großer Kremlpalast...
… und die Inszenierung imperialer Größe
Lenin-Mausoleum...
… und die verdrängte Revolution
Denkmal für Minin und Posharski...
… und der Kampf gegen äußere Feinde
Christus-Erlöser-Kathedrale...
… und der Gleichklang von Kirche und Staat
Manege...
… und die 1000-jährige Geschichte Russlands
Wladimir-Denkmal...
… und die „dreieinige russische Nation“
Kreml-Türme...
… und die Versöhnung von Imperium und Sowjetstaat
Solowezki-Stein...
… und die Erinnerung an den Stalinismus
Seit jeher ist er Zentrum und Bühne der Macht in Russland. Wie die symbolische Wucht des Kreml der politischen Inszenierung dient.
Der Kreml
Nach Lenins Tod im Januar 1924 entschied das Politbüro der Kommunistischen Partei, den Körper langfristig zu konservieren und in einem Mausoleum auszustellen. Lenins gegenwärtige Ruhestätte wurde sechs Jahre nach seinem Tod im Jahr 1930 fertiggestellt. Sie befindet sich an der Kremlmauer am Roten Platz in Moskau. Zu Zeiten der Sowjetunion wurde das Mausoleum zu einem der zentralen architektonischen Symbole des Landes und zum Mittelpunkt des Lenin-Kultes.

Mehr dazu in unserer Gnose
Wortman, Richard S. (2006): Scenarios of Power: Myth and Ceremony in Russian Monarchy from Peter the Great to the Abdication of Nicholas II, Princeton, NJ
War die Krim schon immer russisch? Entsprach die Angliederung der Krim dem Völkerrecht? Und was hat das alles mit einer vermeintlichen Politik der Eindämmung Russlands zu tun?

13 WissenschaftlerInnen kommentieren Putins Rede vom 18. März 2014
Der Kreml ist nicht nur eine der größten Festungsanlagen Europas, seit 1990 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und eine Hauptattraktion für in- und ausländische Touristen. Der Kreml steht symbolisch für die politische Macht Russlands, wie das Weiße Haus für die USA, Downing Street 10 für Großbritannien oder Bonn für die alte Bundesrepublik. Mit ihm sind Bilder verbunden: das Ziegelrot der Kremlmauer, das Grün der Tannen, die goldenen Kuppeln der Kathedralen, die mächtige Front des Großen Kremlpalastes in Weiß-Gelb. Der Kreml erscheint zusammen mit dem Lenin-Mausoleum fast zwangsläufig im Hintergrund der Militärparaden auf dem Roten Platz, auf dem sich die sowjetische Führung jahrzehntelang inszenierte. Er ist der Inbegriff für das „sowjetische System", das über weite Strecken des 20. Jahrhunderts die Welt geprägt hat. Nicht von ungefähr hat alles, was dort vor sich ging, sogenannte „Kreml-Astrologen" in aller Welt beschäftigt. Wer vom Kreml spricht, meint schon immer mehr als nur einen geographischen Ort. Der Kreml ist die Chiffre für eine politische Welt, auch ein Kampfbegriff.
Was ist der Moskauer Kreml?
Der Kreml ist der älteste Teil der urkundlich im Jahre 1147 erstmals erwähnten Stadt Moskau und eine auf einer etwa 40 Meter hohen Hügelterrasse gelegene Burg- und Festungsanlage. Der Grundriss in Form eines ungleichen Dreiecks umfasst ein Gelände von 27,5 Hektar. Die rund 2200 Meter lange Ziegelmauer, die dem Relief entsprechend zwischen drei bis sechs Meter dick und bis zu 20 Meter hoch ist, wird gegliedert und bekrönt von 20 runden und rechteckigen Eck- und Tortürmen. Die Burganlage war umgrenzt im Süden von der Moskwa, im Norden vom Neglinnaja Fluss, dem heutigen Alexandergarten und im Osten, entlang des Roten Platzes, von einem künstlich angelegten Burggraben. Erste hölzerne Turm- und Wallanlagen sind für das Jahr 1339 nachgewiesen. Über viele Jahrhundert wurde der Kreml mit seinem baulichen Ensemble zum politischen, kulturellen und symbolischen Zentrum des Moskauer Zartums, dann des Russischen Kaiserreiches, der nachfolgenden Sowjetunion und schließlich der Russländischen Föderation. Seit 1990 ist der Kreml Amtssitz des Präsidenten und Ort staatlicher Repräsentation der Russländischen Föderation.
Die Zeremonie kann als Illustration und Fortschreibung dessen gesehen werden, was Richard Wortman in seinem Werk Scenarios of Power für das Zarenreich analysiert hat. Es handelt sich um eine bis ins letzte Detail elaborierte Choreographie, die schon lange geprobt, dann aber genau um zwölf Uhr durch den Glockenschlag vom Spasski-Turm in Gang gesetzt wird. Der Ablauf wird von Millionen von Zuschauern am Fernsehschirm verfolgt.

Putin geht zu Fuß aus dem Senatsgebäude, wo sich der Amtssitz des Präsidenten befindet, zu der auf dem Vorplatz wartenden und erstmals öffentlich vorgeführten Limousine vom Typus Aurus Senat, die an die Stelle der bisher genutzten Mercedes-Karossen getreten ist. Putin wird von dort zum Großen Kremlpalast gebracht, wo er einen weiten Weg bis zum Endpunkt, dem Podium an der Stirnseite des Sankt-Andreas-Saales zurücklegt. Immer von der Kamera begleitet, schreitet er im dunklen Anzug und schon vertrauten sportlichen Gang zielstrebig auf dem roten Teppich durch endlos scheinende Flure, Enfiladen, den Alexander-Saal, den Sankt-Georg-Saal, er nimmt die Paradetreppe, passiert die von Wachen in historischen Uniformen geöffneten vergoldeten Türen – Bewegungsbilder in Großaufnahme. Die rund 5000 handverlesenen Gäste erheben sich, das Orchester setzt ein, Beifall brandet auf. Putin erreicht das Podium vor der russischen Trikolore, legt den Amtseid auf die vor ihm liegende Verfassung ab und schließt die Zeremonie mit seiner ersten Ansprache als erneut inthronisierter Präsident. Auf den Staatsakt im Großen Kremlpalast folgt der Gang über den Kathedralplatz zur Verkündigungskathedrale, wo ihn Patriarch Kirill in Empfang nimmt und zum Gebet und Segen in den Sakralbau geleitet. Zum Abschluss nimmt Putin die Parade des Kreml-Regiments ab und leitet zum festlich-geselligen Teil der Zeremonie über. In einem vergleichbaren Rahmen – im Sankt-Georg-Saal des Großen Kremlpalastes – hatte Putin am 18. März 2014 unter dem Beifall der Mitglieder des Föderationsrates und der Staatsduma die Annexion der Krim verkündet, deren „Beitritt" zur Russländischen Föderation anschließend vertraglich besiegelt wurde.

In der Inszenierung dieser Ereignisse kommt alles zusammen: Der Kreml als historischer Schauplatz, die Pracht des 1839 bis 1849 von Konstantin Thon im Empire-Stil errichteten Großen Kremlpalastes, der Kathedralplatz mit dem Ensemble all der Kirchen und Glockentürme, die den Kreml auch als geistliches Zentrum ausweisen, die Begrüßung durch den Patriarchen am Portal der Verkündigungskathedrale sowie schließlich die Militärparade als Demonstration militärischer Macht.
Choreographie der Macht
Welche Rolle der Kreml im Selbstverständnis der russischen Führung und in dem nach außen propagierten Bild der Macht spielt, zeigt sich an einem so zentralen Ereignis, wie der Inauguration Wladimir Putins als Präsident der Russländischen Föderation am 7. Mai 2018.
Text: Karl Schlögel, Foto: Max Sher, 29. Juni 2021
Konstantin Andrejewitsch Thon (1794–1881) war ein renommierter russischer Architekt deutscher Herkunft und Hofarchitekt von Zar Nikolaus I. Thon, Sohn eines deutschen Juweliers in Sankt Petersburg, studierte Architektur in Sankt-Petersburg und betrieb viele Jahre eigene Kunststudien in Rom. Neben dem Großen Kremlpalast beendete er den ehrgeizigen Bau der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, ein Symbol für den Sieg über Napoleon. Später leitete Thon die Architekturabteilung der Petersburger Kunstakademie.
Der Kreml ist ein Bild von der russischen Hauptstadt, vom Zentrum des Landes, von der politischen und geistigen Macht, die es ohne den Kreml-Komplex gar nicht gibt.
Foto © Alexey Druzginin/Anton Denisov/Sputnik
Nowo-Ogarjowo ist ein Anwesen in der Oblast Moskau und seit 2000 offizieller Amtssitz von Wladimir Putin. Die im 19. Jahrhundert errichtete Residenz diente zu Zeiten der Sowjetunion als Gästehaus und Erholungsort für hochrangige Politiker.
Zit. nach: Schlögel, Karl (1984): Moskau lesen, Berlin, S. 121
Benjamin, Walter: Städtebilder, Moskau, in: Projekt Gutenberg-DE
Sigismund von Herberstein (1486–1566) war ein im Dienste der Habsburger tätiger österreichischer Diplomat, humanistischer Schriftsteller und zweifacher Gesandter am Hofe des Großfürstentums Moskau. Seine geographischen, soziokulturellen wie historischen Berichte über das Großfürstentum Moskau (ab 1547 Russisches Zarenreich) hielt er in seinem Werk Moscovia (1549)fest, welches das Russlandbild im Westen für Jahrhunderte prägen sollte. Er gilt als Begründer der Russlandkunde.
Adam Olearius (1599–1671) war ein deutscher Gelehrter und Diplomat. Nach einem Studium der Theologie, Philosophie und Mathematik in Leipzig nahm er im Dienste des Herzogs von Schleswig-Holstein-Gottorf an Gesandtschaften nach Moskau und Persien teil. Seine 1647 verfassten Berichte dieser Reisen gelten als die ersten deutschen wissenschaftlichen Reisebeschreibungen. Olearius war auch als Übersetzer aus dem Persischen tätig.
Aber der Kreml ist auch im (medialen) Alltag russischer Bürger tagtäglich präsent. Einmal durch die Fernsehbilder aus dem Amtszimmer des Präsidenten, in dem Wladimir Putin seine Gesprächspartner in einem Interieur empfängt, das ebenfalls einem historisierenden Design – viel Gold, Schnitzereien, Intarsien – nacheifert; dabei finden viele dieser Fernsehauftritte nicht im Kreml, sondern in den außerhalb Moskaus liegenden Residenzen in Nowo-Ogarjowo oder Sotschi statt. Tatsächlich ist der Kreml, unabhängig von geschichtspolitischen Absichten, fast unabsichtlich und ungeplant, immer im Bild, wenn es um große und kleine politische Entscheidungen geht, weil es ein Bild von der russischen Hauptstadt, vom Zentrum des Landes, von der politischen und geistigen Macht ohne den Kreml-Komplex gar nicht gibt.
Ort der politischen und geistigen Macht
Er ist immer im Bild, auch wenn die Entscheidungen im innersten Machtzirkel und jenseits der Kremlmauern getroffen werden. Kein Bild von Russland, kein Bild von Moskau ohne den Kreml. So haben es die Reisenden über die Jahrhunderte hinweg gesehen – Gesandte wie Sigismund von Herberstein (1527), Adam Olearius (1638), die Graveure, die immer wieder die hoch aufragende Silhouette aus Mauern, Palästen, Glockentürmen gezeichnet haben, bis hin zum Korrespondenten des Berliner Tageblatts Paul Scheffer: „Und dann der Kreml. Keine Zweisternensache Baedekers mehr, sondern Burg und die Einsamkeit der Herrschenden, wohlverteidigt mit roten Soldaten und umständlicher Kontrolle der Gäste. Auf die Mittelalterlichkeit und den morgenländischen Sinn Moskaus zurückgeführt, kommt man davon nicht mehr los. Der Kreml ist wahrhaftig die Burg über der Stadt". Und unübertrefflich knapp Walter Benjamin in seinem Moskauer Tagebuch 1927: „Vorm Kremltore stehen in blendendem Licht die Posten in den frechen ockergelben Pelzen. Über ihnen funkelt das rote Licht, das den Verkehr in der Durchfahrt regelt. Alle Farben Moskau schiessen hier, im Zentrum der russischen Macht, prismatisch zusammen".
Kein Bild von Russland, kein Bild von Moskau ohne den Kreml.
Man entgeht dem Kreml in Moskau nicht: Selbst aus der Ferne und bei nebligem Wetter leuchten die goldenen Kuppeln, auch wenn diese inzwischen Konkurrenz bekommen haben von der Skyline der Wolkenkratzer in Moscow City.
Foto © Maksim Blinov/Sputnik
Die Staatliche Universität Moskau ist eine klassische Volluniversität. Sie ist nicht nur die älteste, sondern auch die wichtigste und renommierteste Hochschule Russlands. Abgesehen von ihrer unangefochtenen Bedeutung für das Bildungssystem spielte sie immer wieder auch politisch eine wichtige Rolle und prägt zudem das architektonische Stadtbild Moskaus.

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Das Haus der Regierung ist ein von 1928 bis 1931 errichtetes Wohnhaus unweit des Kreml. Es liegt am Ufer des Flusses Moskwa und wird deshalb üblicherweise als das Haus an der Uferstraße (dom na nabereshnoi) bezeichnet. Es verkörpert die Geschichte der frühen Stalin-Ära wie kaum ein anderes Gebäude: Hier lebten mitunter die mächtigsten Menschen der Sowjetunion, unter anderem Minister, Mitglieder des Politbüros, Marschälle und Admiräle. Rund 800 Bewohner des Hauses fielen 1936 bis 1938 dem Großen Terror zum Opfer. Heute gilt das Gebäude als eine der besten Adressen Moskaus.

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Oft als Großer Terror bezeichnet, handelt es sich um die staatlichen Repressionen gegen die sowjetische Bevölkerung zwischen 1936 und 1938. Der Begriff „Großer Terror" wurde durch die gleichnamige Monographie des britischen Historikers Robert Conquest geprägt. Während der Säuberungen wurden Schätzungen zufolge rund 1,6 Millionen Menschen verhaftet, etwa 680.000 von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Die Repressionen erfolgten in mehreren Wellen. Waren zunächst vor allem hohe Parteikader betroffen, gerieten im Laufe der Zeit immer neue Gesellschaftsgruppen ins Visier der Sicherheitsorgane. Eine juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen fand bis heute nicht statt.

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Der Tag des Sieges wird in den meisten Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in Israel am 9. Mai gefeiert. Er erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland und ist in Russland inzwischen der wichtigste Nationalfeiertag. Der 9. Mai ist nicht nur staatlicher Gedenktag, sondern wird traditionell auch als Volks- und Familienfest begangen.

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Michail Gorbatschow gilt in Russland heute oft als „Totengräber der Sowjetunion": Noch sind die russische Gesellschaft und ebenso die Historikerzunft weit davon entfernt, die historische Rolle Gorbatschows in all ihren Facetten zu beurteilen. Die Gründe, warum er im eigenen Land derartig ungeliebt ist, lassen sich jedoch nennen und drei Bereichen zuordnen: Erstens hängt dies unmittelbar mit Gorbatschows politischem Handeln in seiner Regierungszeit zusammen, zweitens lässt sich die Kritik an ihm auf ein sehr lückenhaftes historisches Gedächtnis der russischen Bevölkerung zurückführen und drittens haben die auf ihn folgenden Regierungen seine Reformen gezielt dämonisiert, um mit dieser Abgrenzung den eigenen politischen Kurs zu legitimieren.

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Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik.

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Das Grabmal für den Unbekannten Soldaten und die Ewige Flamme wurden 1967 vor der Kremlmauer im Alexandergarten erbaut. Das monumentale Grabmal soll sowjetische Soldaten ehren, die während des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945 gefallen sind. Am Tag des Sieges, dem 9. Mai, versammeln sich dort traditionell Kriegsveteranen, der russische Präsident legt Blumen vor dem Grab nieder.
Man entgeht dem Kreml in Moskau nicht: von den Sperlingsbergen mit der Lomonossow-Universität aus gesehen, leuchten in der Ferne selbst bei nebligem Wetter die goldenen Kuppeln, auch wenn diese inzwischen Konkurrenz bekommen haben von der Skyline der Wolkenkratzer in Moscow City. Von der in den 1930er Jahren zu einem breiten Fluss aufgestauten Moskwa und den beiden Brücken nach Samoskworetschje aus gesehen, bietet der Kreml ein grandioses Panorama. Sichtachsen laufen auf den Kreml zu wie die Straßen aus den alten russischen Städten, die alle nach Moskau führen. Das kleine Dreieck auf den Karten des Straßen- und Metronetzes zeigt, dass alles um den alten Burgberg kreist. In Sichtweite sieht man den Wohnkomplex des Hauses an der Moskwa, in dem zahlreiche Angehörige der politischen Elite der 1930er lebten, bevor sie in Stalins „Säuberungen" verschwanden. Nicht fern am Horizont leuchtet der goldene Helm der wieder errichteten Christus-Erlöser-Kathedrale, an deren Stelle einmal der Palast der Sowjets über 400 Meter hoch aufragen sollte. Festungsanlagen nach dem Vorbild des Moskauer Kreml finden wir in einer Art imperialer Herrschaftstopographie auch in anderen Städten des Reiches, etwa in Nishni Nowgorod, in Kasan oder Astrachan.

Wer in der Nationalbibliothek, einst Lenin-Bibliothek, arbeitet, oder eine Ausstellung in der Manege besucht, ist in wenigen Minuten an der Kremlmauer. Entlang der Befestigungsanlage reihen sich halbsakrale Orte: der Alexandergarten mit der Grotte, dem Grabmal für den Unbekannten Soldaten und der Ewigen Flamme. Auf allen Bildern, die wir vom Roten Platz im Kopf haben, ist im Hintergrund immer auch der Kreml zu sehen: ob es sich um das Lenin-Mausoleum mit den Parteiführern von einst und die Warteschlange der Mausoleum-Besucher davor, um die Militärparaden, die am Tag des Sieges über den Platz hinwegziehen, um historische Fotos von Mitgliedern der Komintern, die Beerdigungs-Rituale an der Kremlmauer, oder um die Volksfeste und Rockkonzerte handelt, die seit Jahren dort wieder gefeiert werden. Generationen von Besuchern des Kaufhauses GUM, Touristen, die die Basilius-Kathedrale ansteuern oder Geschichts-Interessierte, die sich am Denkmal für Kusma Minin und Dimitri Posharski über die Befreiung des Kreml von polnisch-litauischer Besetzung im Jahre 1612 informieren lassen, – sie alle bewegen sich in nächster Nähe zum Zentrum der Macht. Ikonisch sind die Fernsehbilder der schwarzen Limousinen, die durch die Tore des Spasski- oder Borowitzki-Turms preschen (inzwischen gibt es einen Heliport auf dem Kreml-Areal), oder jene der Kuppel des Senatsgebäudes – über der nach Gorbatschows Fernsehansprache zur Selbstauflösung der UdSSR am 25. Dezember 1991 die rote Fahne mit Hammer und Sichel eingeholt wurde und wo seither die weiß-blau-rote Trikolore weht.
Omnipräsenz des Kreml
Ikonisch sind die Bilder der Kuppel des Senatsgebäudes, über der am 25. Dezember 1991 die rote Fahne mit Hammer und Sichel eingeholt wurde und wo seither die weiß-blau-rote Trikolore weht.
Bild: Screenshot der Inaugurierung von Wladimir Putin 2018 / kremlin.ru unter CC BY 4.0
Die Bezeichnung Schule der Roten Kommandeure geht auf die Unterteilung in die Weiße und Rote Armee während der Oktoberrevolution von 1917 zurück. Als sich die einstigen Strukturen des zaristischen Russlands auflösten, wurden neue (Militär-)Strukturen geschaffen. So wurden u. a. Schulen für die Ausbildung sowjetischer bzw. roter Kommandeure gegründet. Das Dekret zur Organisation der Roten Armee wurde 1918 von Lenin unterzeichnet.
Iwan Kaljajew (1877-1905) war ein russischer Sozialrevolutionär, Terrorist und Poet. Er beteiligte sich 1904 an einem tödlichen Attentat auf den Innenminister des Russischen Reiches Wjatscheslaw von Plehwe. 1905 verübte er das tödliche Bombenattentat auf den Großfürsten Sergej Romanow, den Onkel des Zaren Nikolaus II. Kurz darauf wurde Kaljajew zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Jede Regierung hat am Kreml-Komplex umgebaut, weitergebaut, aber auch abgerissen. In den letzten Jahren sind archäologische Arbeiten durchgeführt worden, um die Anfänge der Bebauung freizulegen und diese Touristen zugänglich zu machen: etwa die Fundamente des Tschudow-Klosters, das in den 1930er Jahren zugunsten einer Schule der Roten Kommandeure abgerissen wurde – dieser Bau ist nun selbst schon verschwunden. Man hat an der Stelle, an der der Terrorist Iwan Kaljajew 1905 den Moskauer Generalgouverneur und Großfürsten Sergej Alexandrowitsch mit einer Bombe getötet hat, wieder ein Kreuz errichtet, das nach der Revolution demontiert worden war, und man hat im Jahre 2010 die Christus-Ikone, die am Spasski-Turm übertüncht worden war, wieder freigelegt. 2016 wurde in nächster Nachbarschaft zum Borowitzki-Tor eine Monumentalstatue für Wladimir den Heiligen, den Täufer der Kiewer Rus errichtet, den Putin als „geistigen Vater der russischen Welt" beansprucht.
Umbauten, Modernisierungen und Abrisswut
In der Geschichte des Kreml gab es Perioden energischer Bautätigkeit, Blütezeiten wie unter Iwan III., in dessen Regierungszeit die Baumeister aus Italien und aus Pskow prächtige Paläste und Kathedralen errichteten, die bis heute etwas vom Geist der Renaissance und den intensiven Beziehungen mit Europa erahnen lassen.
Foto: Moskau, Kreml, 1896–1910, unbekannter Fotograf © Multimediakomplex Aktuelle Kunst, Moskau
Der Vaterländische Krieg von 1812 und die für den Krieg zentrale Figur von Napoleon Bonaparte haben die russische Kultur im 19. Jahrhundert sehr stark beeinflusst. Die Persönlichkeit des französischen Kaisers wurde in Briefen, Publizistik und literarischen Werken kontrovers diskutiert. So entstanden unterschiedliche Bilder von Napoleon, sie reichen vom Idealbild des romantischen Helden bis hin zu einem Kriminellen, der sich gottgleich wähnte.

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Am 25. Oktober (7. November) 1917 stürzten die Bolschewiki die Provisorische Regierung, die nach der Februarrevolution eingesetzt wurde. Die Machtübernahme in Petrograd erfolgte ohne viel Blutvergießen, jedoch schloss sich ihr ein mehrjähriger Bürgerkrieg mit Millionen Todesopfern an. Zahlreiche westeuropäische Staaten unterstützten den Widerstand gegen die Bolschewiki auch militärisch. So nahm die Geschichte der UdSSR ihren Anfang.

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Alexander II. (1818–1881) ging für seine beispiellosen Reformen in Militär, Justiz und Bildungswesen in die Geschichte ein. Die wohl entscheidenste Reform war das Ende der Leibeigenschaft der Bauern im Jahr 1861, weswegen Alexander II. auch als „Befreier-Zar“ bezeichnet wird. Die Reform erfolgte gegen den Widerstand der russischen Aristokratie. Anhängern kommunistischer und sozialistischer Kreise gingen die Reformen jedoch nicht weit genug. 1881 wurde Alexander II. durch ein Attentat der linksterroristischen Organisation Narodnaja Wolja ermordet.
Iwan III. (1440–1505), auch Iwan der Große genannt, war Großfürst von Moskau. Während seiner Regierungszeit konnte Russland endgültig die Tatarenherrschaft besiegen. Er weitete das damalige Großfürstentum Moskau nach Norden und Osten aus, wodurch es zu einer Großmacht aufstieg.
Die größten Schäden wurden allerdings durch die Abrisswut der Kremlherren selbst angerichtet. Allein zwölf Klöster – darunter die ältesten – wurden dort, wo Walter Benjamin noch ein „Labyrinth von Klöstern" vorgefunden hatte, in den 1930er Jahren abgerissen. Die Attribute des Ancien regime, ein Denkmal für Alexander II., Doppeladler, oder die „Geschmacklosigkeiten der Romanows" bei der Innenausstattung der Räume, sollten von den Bolschewiki getilgt werden. Inventar aus Kirchen wurde konfisziert, Ikonostasen wurden demontiert und in Museen verbracht, sodass man Fragmente des Kreml – Ikonen, Kultgegenstände – heute jenseits des Kreml in Moskauer Museen zu sehen bekommt. Der größte bauliche Eingriff in die architektonische Landschaft des Kreml war verbunden mit der Errichtung des Großen Kongresspalastes in den Jahren 1959 bis 1961, der den gescheiterten beziehungsweise abgesagten Bau des Stalinschen Palastes der Sowjets, der 1937 begonnen worden war, ersetzen sollte.
Auch Zeiten der Unruhe hinterließen ihre Spuren. Die größten Schäden für den Kreml wurden allerdings durch die Abrisswut der Kremlherren selbst angerichtet.
Im Wesentlichen ging es in den letzten Jahrzehnten um Wiederherstellung, aufwendige Renovierung und Modernisierung. In der Geschichte des Kreml gab es Perioden energischer Bautätigkeit, Blütezeiten wie unter Iwan III., in dessen Regierungszeit die Baumeister aus Italien und aus Pskow prächtige Paläste und Kathedralen errichteten, die bis heute etwas vom Geist der Renaissance und den intensiven Beziehungen mit Europa erahnen lassen – ob in den Festungsmauern mit ihren „ghibellinischen Schwalbenschwänzen" oder der eindrücklichen Fassade des Facettenpalasts. Auch Zeiten der Unruhe hinterließen ihre Spuren – so die „Zeit der Wirren" und die Besetzung Moskaus durch polnisch-litauische Heere zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die Besatzung durch die Truppen Napoleons, als Munitionsdepots explodierten und schwere Schäden anrichteten, oder auch die Oktoberrevolution, als die Kremltürme in den Kämpfen zwischen revolutionären und gegenrevolutionären Truppen unter Artilleriebeschuss gerieten und schwer beschädigt wurden. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände mit Tarnnetzen „maskiert", sodass deutsche Bomber ihr Ziel im Moskauer Zentrum verfehlten.
Anna Achmatowa (1889–1966) war eine russische Dichterin und Übersetzerin. Sie gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Gedichte werden zur Stilrichtung des Akmeismus gezählt. Ihr Schlüsselwerk, das Poem Rekwijem (dt. Requiem), ist auch Widerhall ihres tragischen Lebens: 1921 wurde ihr früherer Ehemann, der Dichter Nikolaj Gumiljow (1886–1921), hingerichtet, ihr dritter Ehemann Nikolaj Punin (1888–1953) wurde mehrmals inhaftiert und starb 1953 im Lager. Ihr einziger Sohn, der Historiker Lew Gumiljow (1912–1992), hat mehr als zehn Jahre im Lager verbracht.

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Juri Lushkow (1936–2019) war von 1992 bis 2010 Moskauer Bürgermeister. In seine Amtszeit fällt der Moskauer Bauboom um den Jahrtausendwechsel, zugleich wurden ihm Korruption und die Zerstörung der historischen Zentren vorgeworfen. Lushkow wurde vom damaligen Staatspräsidenten Dimitri Medwedew im September 2010 entlassen, offiziell aufgrund von Vertrauensverlust. Zu seinem Nachfolger wählten die Moskauer im Oktober 2010 Sergej Sobjanin (geb. 1958).
Jedes Gebäude im Kreml hat seine eigene Geschichte, und zusammengenommen geben sie Auskunft darüber, wie es die jeweilige Macht mit dem Erbe der Vergangenheit gehalten hat. Touristen können heute, nachdem der zwischen 1927 und 1955 für die Öffentlichkeit geschlossene Kreml größtenteils wieder zugänglich ist, die zahlreichen Museen besuchen – die Rüstkammer mit ihren Schätzen aus Kunsthandwerk und Waffenschmieden, oder das Arbeitszimmer, das Lenin nach seinem Umzug aus Petrograd im Senatsgebäude bezogen hat. Während man die Räume und Korridore, auf denen sich in fast wohngemeinschaftlicher Intimität Stalin und seine Mitstreiter eingerichtet hatten, wohl nur noch in den Erinnerungen an „Stalins Hof" finden kann. Anna Achmatowa hat diesem Kreml Zeilen in ihren „Stanzen" von 1940 gewidmet:

Nacht der Strelitzen, Moskau jenseits des Flusses, Nacht.
Die Uhr schlägt wie zum Kreuzgang in der Karwoche.
Mir träumt es schrecklich,
Kann niemand, niemand mir denn helfen?
Man darf nicht leben im Kreml. Der Umgestalter (Peter) hat recht.
Dort wimmelt es noch von den Mikroben alten Grimms
Und vom Hochmut des Usurpators anstatt des Rechts des Volkes

Eine über den alten Kreml hinausweisende Perspektive findet sich in den Projekten, die mit dem Stalinschen Generalplan für die Umgestaltung Moskaus aus dem Jahre 1935 verbunden waren. Im Zentrum stehen hier der 420 Meter hohe Palast der Sowjets nach den Entwürfen von Boris Jofan sowie Bauten, die das Neue Moskau an zentralen Punkten bereits antizipieren sollen. Heute vermitteln diese Gebäude eine Ahnung davon, wie das Neue Moskau einmal aussehen sollte: Iwan Sholtowskis Bau für Intourist am Manegeplatz, das Gosplan-Gebäude (heute Sitz der Duma) von Jossif Langbard, das Hotel Moskwa von Alexej Schtschussew von 1937 (unter Bürgermeister Juri Lushkow abgerissen und im historischen Stil neu gebaut), das Gebäude des Volkskommissariats der Schwerindustrie (ursprünglich an der Stelle des GUM), das Hochhaus in Sarjadje (später Hotel Rossija, heute Parkanlage) – alles in unmittelbarer Nachbarschaft des Kreml.
Das Erbe der Vergangenheit
Boris Jofan (1891–1976) war ein sowjetischer Architekt, welcher in den 1930er Jahren von Stalin damit beauftragt wurde, sozialistische Prachtbauten zu entwerfen. Als zentrales Element sollte Jofan den 415 Meter hohen Palast der Sowjets am Moskwa-Ufer entwickeln – für den die Christ-Erlöser-Kathedrale gesprengt wurde. Durch den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion blieb der Palast, eine Bauruine. Jofan entwarf jedoch weitere bedeutende Gebäude, wie das Haus der Regierung in Moskau oder den Sowjetischen Pavillon zur Weltausstellung 1937 in Paris.
Der so imposante Kreml-Komplex wäre nach Realisierung des Stalinschen Generalplans von 1935 auf die Größe einer Spielzeuglandschaft geschrumpft und zum Museum einer endlich überwundenen Vergangenheit geworden. Dazu ist es mit dem Tod Stalins nicht gekommen.
Foto: Modell des Palastes der Sowjets von Boris Iofan © Mikhail Filimonov/Sputnik
Der sowjetische Diktator Josef Stalin (geb. 1878) erlag Anfang März 1953 einem Schlaganfall. Da das totalitäre Regime im höchsten Maße personalisiert war, stürzte sein Tod die Sowjetunion in allgemeine Orientierungslosigkeit. Ein Außenseiter kam an die Macht und brach drei Jahre später offiziell mit dem Personenkult um Stalin.

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Der Kreml ist heute ein sowohl museal-touristischer wie herrschaftlich-politischer Komplex. Die gegenwärtige russische Regierung nutzt ihn als Hintergrund für die Inszenierung der Macht, setzt seine symbolische Wucht, die mit ihm verbundenen Emotionen für ihre propagandistischen Zwecke ein. Allerdings ist sie in Wahrheit doch mehr Figur in den Kulissen als Herr über ein über Jahrhunderte und viele Generationen gewachsenes Ensemble – über das sich eben nicht willkürlich und nach Belieben verfügen lässt.
Die gegenwärtige russische Regierung ist in Wahrheit doch mehr Figur in den Kulissen als Herr über ein über Jahrhunderte gewachsenes Ensemble – über das sich eben nicht willkürlich und nach Belieben verfügen lässt.
Mit der vollständigen Umsetzung des Stalinschen Generalplans von 1935 hätten sich die Koordinaten der Stadt und damit auch der Stadtwahrnehmung radikal verschoben: Der so imposante Kreml-Komplex wäre nach Realisierung des Plans auf die Größe einer Spielzeuglandschaft geschrumpft, ein über Hunderte von Jahren gewachsener, die Stadtlandschaft dominierender Komplex wäre symbolisch und baulich entwertet und degradiert, zum Museum einer endlich überwundenen Vergangenheit geworden. Dazu ist es mit dem Tod Stalins nicht gekommen.
Der Kreml ist heute ein sowohl museal-touristischer wie herrschaftlich-politischer Komplex. Die gegenwärtige russische Regierung nutzt ihn als Hintergrund für die Inszenierung der Macht, setzt seine symbolische Wucht, die mit ihm verbundenen Emotionen für ihre propagandistischen Zwecke ein.
Video: Im Sankt-Georg-Saal des Großen Kremlpalastes verkündet Putin am 18. März 2014 die Annexion der Krim / kremlin.ru
Am 23. August 1939 unterzeichneten Hitlers Außenminister Joachim von Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow in Moskau den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Das Vertragswerk sah die Neutralität bei Konflikten mit Dritten vor und einen Verzicht auf gegenseitige Gewaltanwendung. In einem geheimen Zusatzprotokoll, dessen Existenz von der Sowjetunion jahrzehntelang geleugnet wurde, legten beide Regime ihre Einflusszonen in Osteuropa fest. Der so genannte Hitler-Stalin-Pakt bildete die Grundlage für den Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa.

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Das militärische Eingreifen der Sowjetunion in Afghanistan dauerte von 1979 bis 1989 an. In der sowjetischen Armee dienten neben den Eliteeinheiten vor allem junge Wehrpflichtige. Auf der sowjetischen Seite wurden 15.000 Soldaten getötet und 54.000 verwundet. Der Krieg führte bei der Bevölkerung zu einem Trauma, das bis heute nachwirkt und die Deutung des aktuellen Einsatzes der russischen Luftwaffe in Syrien nicht unerheblich beeinflusst.

Mehr dazu in unserem Dossier
Als Augustputsch wird der Umsturzversuch bezeichnet, der zwischen 19. und 21. August 1991 in Moskau stattfand. Eine Gruppe führender Staatsfunktionäre, die sich als Staatskomitee für den Ausnahmezustand bezeichnete, ergriff die Macht mit dem Ziel, die Sowjetunion vor dem Zerfall zu bewahren. Doch Boris Jelzin rief zum Widerstand auf, tausende Menschen schlossen sich an und gingen auf Barrikaden. Das Scheitern des Umsturzversuchs beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion.

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Es gab in der jüngeren Vergangenheit einen kurzen Augenblick, in dem der Kreml nicht nur Ort offizieller Repräsentation war, sondern die Bühne für eine offene gesellschaftliche Konfliktaustragung – in den Tagen der Perestroika, des Abschieds vom jahrzehntelangen Ausnahme- und Belagerungszustand. Das ganze Land, ja die Welt, blickte gebannt auf die live im Fernsehen übertragenen Tagungen des Kongresses der Volksdeputierten im Kongresspalast des Kreml, wo die Zukunft der UdSSR und Russlands verhandelt und über brennende Fragen gestritten wurde – zum Beispiel über den Hitler-Stalin-Pakt, über Andrej Sacharows Kritik am Afghanistan-Feldzug oder über Korruption. In den Hintergrund rückte die Machtarchitektur des Kreml für einen Augenblick auch, als Hunderttausende Moskauer Bürger nach dem gescheiterten Putsch im August 1991 über den Manege- und Roten Platz geströmt waren und diese zum Forum der Stadtbewohner gemacht hatten. Die Zeit der Diskussion ist heute lange vorbei, Putins autokratisches Regime hat sich das Gelände vorerst zurückgeholt. Aber die historische Bühne des Kreml ist zu groß, um nur als Kulisse zu dienen, zu groß für die Ambitionen kleiner Akteure. Es gibt bekanntlich Grenzen der Verfügbarkeit über Geschichte. Und irgendwann wird sich auch die Stadt zurückmelden, die jenseits von Festungsmauern wächst.
Der Kreml als Bühne und Kulisse
Karl Schlögel
Karl Schlögel ist Osteuropahistoriker und Publizist, Professor Emeritus für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Geschichte der russischen Moderne und des Stalinismus, russische Diaspora und Dissidentenbewegung, Kulturgeschichte osteuropäischer Städte und theoretische Probleme historischer Narration. Für seine Arbeit wurde er u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet.

Foto: Arno Burg